Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2021

Spalte:

315-317

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Niemöller, Martin

Titel/Untertitel:

Gedanken über den Weg der christlichen Kirche. Hgg. v. A. Christophersen u. B. Ziemann.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2019. 272 S. Geb. EUR 25,00. ISBN 9783579085449.

Rezensent:

Johann Meyer

Über kaum einen anderen deutschen Kirchenrepräsentanten des 20. Jh.s wird ähnlich kontrovers diskutiert wie über Martin Niemöller, kaisertreuer U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg, 1933 Mitbegründer des Pfarrernotbundes und einer der Hauptvertreter der Bekennenden Kirche, nach Kriegsende ab 1947 Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, engagierter Ökumeniker und Pazifist sowie Leitfigur des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Erst jüngst lieferten sich die beiden Niemöller-Biographen Benjamin Ziemann und Michael Heymel in der evangelischen Monatsschrift zeitzeichen eine äußerst pointierte Auseinandersetzung über die angemessene Deutung N.s. Auf der einen Seite hebt der Historiker Ziemann in seinem Beitrag (zeitzeichen 21 [2020] 5, 48 ff.) die problematischen nationalistischen Einstellungen N.s vor 1945 hervor, was dem nach 1945 etablierten Bild N.s als Widerständler eklatant widerspreche. Die Verklärung N.s sei vielmehr Resultat einer von seinen unkritischen Biographen und maßgeblich von N. selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges betriebenen Stilisierung seiner Person zur Leitfigur des protestantischen Widerstands. Der hessen-nassauische Pfarrer und Theologe Heymel gesteht auf der anderen Seite in seinem Artikel (zeitzeichen 21 [2020] 6, 15 ff.) N. einen ernsthaften Gewissenswandel nach dem Untergang des »Dritten Reiches« zu, der nicht maßgeblich von politischem Opportunismus gespeist gewesen sei. Vielmehr wirft er Ziemann vor, N. unter Ausblendung seines theologischen Fundaments auf einen reinen Kirchenpolitiker zu re­duzieren und heutige Wertmaßstäbe an N. anzulegen, anstatt sein Handeln angemessen innerhalb des historischen Kontextes zu bewerten.
Ohne dass die Debatte um N. bereits zu einem Abschluss gekommen wäre, lässt sie bereits jetzt deutlich die enorme Ambivalenz seiner Persönlichkeit mit ihren zahlreichen Wandlungen, die aus heutiger Perspektive auch zum Widerspruch reizen, zutage treten. Einer in der Öffentlichkeit bislang kaum bekannten Facette in der Biographie N.s, nämlich seinen Plänen der Konversion zum Katholizismus während seiner Haft im KZ Sachsenhausen, widmet sich der hier zu rezensierende Band, der 2019 von Ziemann in Zusammenarbeit mit dem Wuppertaler Systematischen Theologen Alf Christophersen herausgegeben wurde. Darin edieren sie N.s Manuskript »Gedanken über den Weg der christlichen Kirche«, das N. am 21. August 1939 begonnen und in der abgedruckten Form bis zum 5. November vollendet hatte, auch wenn seinen Notizen zufolge eine Weiterführung geplant war.
Dem edierten Text vorangestellt ist eine 59-seitige Einleitung, die eindrucksvoll die größte Stärke des Kooperationsprojektes veranschaulicht: die konsequente Verknüpfung kirchengeschichtlicher Aspekte zum Entstehungskontext der Schrift mit systematisch-theologischen Kontextualisierungen von N.s Gedanken. Zu­nächst gehen die Herausgeber auf die Konversionspläne N.s ein, als deren Ursachen sie die Anziehungskraft katholischer Frömmigkeitspraxis während der Einzelhaft im KZ, N.s Gefühl des Alleingelassenwerdens von seiner eigenen Kirche im Zuge der sogenannten Wartestandsaffäre sowie die »Aufweichung des konfessionellen Gegensatzes zwischen Protestanten und Katholiken« (17) in der NS-Zeit ausmachen. Dabei erhält der Leser zudem einen hervorragenden Eindruck von den persönlichen Beziehungen zwischen N. und seiner Frau Else, die mit beeindruckendem Verhandlungsgeschick die Konversion N.s so lange hinauszögerte, bis dieser den Kairos zum Übertritt als verstrichen ansah. Anschließend schildern die Herausgeber den engeren Entstehungskontext des Textes und betonen hierbei, dass es sich nicht ausschließlich um eine Gelegenheitsschrift zur »Ausfüllung einer leeren Zeit« (33) handele, sondern dass N. mit dem Ziel, sich selbst und seinen Mitstreitern Rechenschaft über seine Konversionspläne abzulegen, »von vornherein die Absicht hatte, mit diesem Manuskript eine theologische Arbeit von einiger Substanz und Tiefe vorzulegen« (28).
Im dritten Teil beleuchten die Herausgeber den theologischen Inhalt des Textes näher, in dem N. ihres Erachtens vor dem Hintergrund neutestamentlicher Überlegungen zu einem »Frontalangriff auf die lutherischen Landeskirchen ausholt« (42). Die lutherische Kirche sei, so N., infolge des landesherrlichen Kirchenregiments »in 400 Jahren fortschreitender Degeneration abgestorben«, weil weltliche Interessen geistliche überlagert hätten und sie infolgedessen »nicht den Glaubensmut hatte, Kirche zu sein« (164). Die evangelische Kirche müsse deshalb zu neuer Lebendigkeit und Einheit zurückfinden, indem sie den Anspruch des Papstes auf apostolische Sukzession anerkenne (80–83.157.203), wolle sie keiner völligen Säkularisierung anheimfallen. Ausgezeichnet deuten Christophersen und Ziemann das idealisierte Bild N.s vom Katholizismus vor dem Hintergrund seiner persönlichen Situation zum Entstehungszeitpunkt der Schrift (51). Dass die Herausgeber bei der theologischen Bewertung von N.s Ausführungen freilich teilweise auch über das Ziel hinausschießen, wird beispielsweise deutlich, wenn sie kritisieren, dass »die besondere Problematik der Vorgehensweise [Niemöllers, J. M.] darin [liege], dass es sich nicht um exegetische Analysen handelt, die dem Fachdiskurs auch nur annähernd nahekommen« (45). Dies kann einem Werk, das während der Einzelhaft im KZ mit nur eingeschränktem Zugang zu theologischer Fachliteratur, geschweige denn persönlichem Anschluss an aktuelle Forschungsdiskurse entstand – wie die Herausgeber eine Seite darauf auch richtigerweise eingestehen –, wohl kaum zum Vorwurf ge­macht werden.
Bevor die Herausgeber abschließend knapp die Editionsprinzipien erläutern, weisen sie auf die Repräsentativität des edierten Textes für damalige Überlegungen innerhalb der Bekennenden Kirche sowie auf Kontinuitäten in N.s Argumentationsfiguren in der Nachkriegszeit hin. Die Entscheidung, die zahlreichen Anmerkungen in Endnoten anstelle von Fußnoten zu setzen, mag vermutlich mit dem Ziel getroffen worden sein, ein breiteres Leserpublikum zu erreichen, verringert jedoch durch das Hin- und Herblättern die Zugänglichkeit der in den Anmerkungen enthaltenen zahlreichen fachkundigen Bezüge auf den Forschungsdiskurs, in denen auch immer wieder insbesondere Ziemanns kritische Bewertung N.s sowie seine Meinungsverschiedenheiten mit Heymel durchscheinen.
Ein Personen- und ein Bibelstellenregister runden den gelungenen Band ab, dessen großes Verdienst es ist, das Bild eines nahbaren und zweifelnden N.s als weitere Facette in die Debatte um seine widersprüchliche Persönlichkeit einzubringen.