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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

286-289

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hafemann, Scott J.

Titel/Untertitel:

Paul: Servant of the New Covenant. Pauline Polarities in Eschatological Perspective.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XVIII, 420 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 435. Lw. EUR 154,00. ISBN 9783161577017.

Rezensent:

Manuel Vogel

Scott J. Hafemann, Neutestamentler am St. Mary’s College, Universität St. Andrews, legt mit dem zu besprechenden Band nach Paul’s Message and Ministry in Covenant Perspective: Selected Essays (2015) – »intended for a broader audience« (XIII, Anm. 6) – nun eine weitere Sammlung seiner Aufsätze zu Paulus vor. Neu sind die Einleitung (1–27) sowie Kapitel 6 (»The One Righteousness of the Two Covenant Epochs [Philippians 3:8–9]«, 165–204), Kapitel 7 (»New Covenant Obedience and Paul’s Gospel of Judgment by Works [Romans 2:12–16]«, 207–241) und Kapitel 10 (»New Creation and the Consummation of the Covenant [Galatians 6:15 and 2 Corinthians 5:17]«, 300–343). Die insgesamt zehn Beiträge, sämtlich exegetische Feinanalysen zu üblicherweise als zentral angesehenen Texten aus Röm, 2Kor, Gal und Phil und damit dezidiert Spezialliteratur, werden in die beiden etwa gleich langen Hälften »The New Covenant’s Present Reality« (29–204) und »The New Covenant’s Future Hope« (205–373) unterteilt.
Nicht erst der »Introduction: Pauline Polarities in Eschatological Perspective« (1–27), sondern bereits dem vorangehenden »Pre-face: A Paradigm for Reading Paul« (XI–XVIII) ist viel Grundsätzliches und Programmatisches zur Paulusauslegung des Vf.s zu entnehmen. Er will zeigen, dass die kritischen und dunklen Aussagen des Paulus zum Mosegesetz etwa in 2Kor 3 nicht »some qualitative or quantitative inadequacy of the Toarh itself« darstellen (XI), weil nämlich Mose kein Problem mit seiner Botschaft hatte, sondern mit ihren Adressaten. Bereits hier kommt ein Grundzug der neueren Paulusauslegung seit der New Perspective on Paul zum Tragen, dass nämlich die gesetzeskritischen Passagen in den Paulusbriefen erst dann als annähernd verstanden gelten, wenn man sie als Ausdruck des jüdisch Denkmöglichen liest. Ein Jude, zumal ein von Jugend an gesetzesfrommer Jude wie Paulus, kann nämlich keine Fundamentalkritik an der Tora formulieren, ohne damit das kennzeichnend Jüdische seiner Gottesverehrung aufzugeben. Dieser Einsicht verdanken sich neue und immer wieder neue Versuche, die paulinischen Gesetzesaussagen zu qualifizieren, zu spezifizieren und zu differenzieren im steten und ständigen Abwägen zwischen den nun einmal streckenweise wenig schmeichelhaften Äußerungen über die Mosetora und dem, was als jüdisch noch sagbar gilt. Der Vf. möchte denn auch zur Paul within Judaism-Debatte, die sich eben diesem Anliegen verschrieben hat, eine »modest contribution« leisten (XIV). Sein Ansatz ist erklärtermaßen »theol-ogical (not primarily political or social), salvific (not primarily rhetorical or polemic), and conceptual (not primarily historical)« (XIII), womit seine Tübinger Prägung durch seinen im Vorwort ge­nannten Lehrer Peter Stuhlmacher klar zur Geltung kommt.
Was dem Vf. vorschwebt und was sich in den über einen längeren Zeitraum entstandenen Beiträgen tatsächlich auch erkennbar und nachvollziehbar durchhält, ist ein »consistently eschatological, co­venantal reading of Paul’s theology« (3). Den eschatologischen Ak­zent gewinnt der Vf. u. a. aus einem in der Tat gewichtigen paulinischen Nebensatz: In 1Kor 10,11 schließt sich Paulus mit seinen Adressaten zusammen als denjenigen, auf die »the end of the ages« (wie der Vf. übersetzt) gekommen ist. Das paulinische Denken müsse verstanden werden aus einem »over-lapping of the ages«, was Paulus zur Auffassung einer »inaugurated eschatology« gebracht hat, »that longs for its consummation« (4). Geprägt sei diese Gegenwart zwischen den Zeiten für Paulus namentlich von der Erfahrung der erfüllten Verheißungen aus Jer 31,31–34 (das ins Herz geschriebene Gesetz, Sündenvergebung) und Ez 36,26 f. (neues Herz, Gabe des Geist Gottes). Daraus resultiert ein »eschatological, two-age contrast« (XII), der freilich durch ein bundestheologisches Kontinuum relativiert wird. Der Kontrast zwischen altem und neuem Äon, an dessen Schnittstelle Paulus eine eigene Gegenwart lokalisiert, gerät nicht zum schieren Dualismus, weil es »a continuity in the structure of God’s covenant relationship with his people throughout salvation history« gibt (9). Der Vf. eruiert eine »threefold covenant structure« (13, Kursive im Original), die in ihrer indikativisch-imperativischen und unkonditioniert-konditionierten Verfasstheit einer »unconditional conditionality« (15) eine spezifisch paulinische »[c]ovenant [e]schatology« konstituiert, die, sofern sie bundestheologisch strukturiert ist, Kontinuität und Identität des Gotteshandelns zu denken ermöglicht. Andererseits bietet der Kontrast der zwei Äonen ein Paradigma für die mancherlei »well-known polarities that characterize Paul’s thought« (4), die aus diesem Blickwinkel nicht als »material contrasts between two different ways of relating to God« zu verstehen sind, sondern als »eschatological contrast between the purposes of God within the two historical epochs that frame the history of redemption« (16). Die begrifflichen Oppositionen der paulinischen Briefe (vgl. die nützliche Zusammenstellung, 18–21) werden auf diese Weise als Aspekte einer heilsgeschichtlichen Dynamik erkennbar, die starre Gegensätze aufbricht.
Dieser Ansatz kommt in den folgenden Kapiteln vielfach zur Geltung, etwa in der Auslegung von Gal 3–4 in Kapitel 2 (»Israel’s Judgment and the Ante-Climax of Eschatology«, 52–89). Ich verstehe den Vf. hier so, dass er die für Israel prima facie nachteiligen Aussagen namentlich in den von Paulus gezogenen Parallelen zum heidnischen Versklavtsein unter die Weltelemente von einem eschatologischen Drama her in den Blick nimmt, das Israel keineswegs durch die Gleichsetzung mit den Heiden abwertet, sondern umgekehrt (bei in der Tat gleichartigem Ausgeliefertsein an die verfehlten Strukturen des alten Äons und trotz seiner bis in die Gegenwart fortdauernden Unfreiheit) als Trägerin der Verheißung und mit Aussicht auf das Ende der Unmündigkeit auszeichnet, oder besser gesagt: in ein noch unabgegoltenes, aber bereits angebrochenes Heilsgeschehen einzeichnet. Es geht nicht um »the hardened character of the Jewish people as such«. Vielmehr wolle Paulus zeigen, »that the time of eschatological restoration has now dawned in Christ, bringing to an end the ›pre-inheritance‹ age of the Sinai covenant« (85). In dieselbe Richtung weist, dass Israel nicht anders unter dem Fluch des Gesetzes ist als in seiner »divinely appointed role at that time of preparing the way for the coming Messiah«. Israel ist »still part of this fallen creation«, aber eben in hoffnungsvoller Pointe »in anticipation of her eschatological redemption« (71).
Die eschatologische Dynamisierung der »pauline polarities« wirkt sich in erheblichem Maße auch auf die in Kapitel 6 vorgetragene Auslegung von Phil 3,8 f. aus. Der Vf. ist in der Lage, die vieldiskutierte paulinische Selbstaussage zum tadellosen Toragehorsam während seiner pharisäischen Lebensphase uneingeschränkt beim Wort zu nehmen und gelten zu lassen. Denn im alten Bund war Toragehorsam gefordert, und hier musste sich Paulus nichts nachsagen lassen. Im alten Bund war das Tun der Tora der Weg zur Gerechtigkeit. Paulus ist ihn gegangen und hat Gerechtigkeit erlangt – nämlich als Teil eines heiligen Rests der Gerechten inmitten eines abtrünnigen und verstockten Volkes. Mit ›meiner Gerechtigkeit aus dem Gesetz‹ und ›meiner Gerechtigkeit durch den Glauben an Christus‹ – das zweite Possessivpronomen ist, so der Vf., sinngemäß zu ergänzen! (189–191) – geht es nicht um den Kontrast von »conflicting human dispositions« von gesetzesstolzer Selbstgerechtigkeit und Glaubensgerechtigkeit. Denn Gott hat Israel nicht ein unerfüllbares Gesetz auferlegt, sondern Israel hat dem durchaus erfüllbaren, geistlichen und lebensdienlichen Gesetz mehrheitlich nicht entsprochen. Deshalb gibt es in Phil 3 auch keinen materialen Kontrast zwischen einstigem ›Gewinn‹ – weder implizit noch explizit will der Vf. hier eine »pejorative nuance« gelten lassen (177) – und jetzigem ›Unrat‹. Es liegt kein »›negative-positive‹ contrast« vor, sondern »an a-fortiori one« (180). Die Toragerechtigkeit ist nur vergleichsweise wertlos, und ausschließlich deshalb, weil nun die messianische Ära angebrochen ist, in der der Glaube an den Messias einzig angemessen ist. Die Toragerechtigkeit ist ein »›loss‹ because it was taken from him by the era-ending arrival of the Messiah« (184). Wiederum gilt also: »[T]he contrast is not material, but eschatological« (196).
Was nun aber die messianische Zeit aus paulinischer Sicht vorrangig prägt und bestimmt, ist die reale Erfahrbarkeit dessen, was dem Gottesvolk in Jer 31,31–34 und Ez 36,26 f. in Aussicht gestellt ist. Diese Sicht des Vf.s macht sich vor allem bei der Auslegung von Röm 2,14 f. in Kapitel 10 bemerkbar. Hier gehe es nicht um Nichtjuden, die zwar die Mosetora nicht haben, wohl aber das Naturgesetz, dessen Erfüllungen und Übertretungen ihnen ebenso zurechenbar sind wie Juden Toraerfüllung und -übertretung. Vielmehr habe Paulus hier »new covenant gentiles« im Blick (228), denen Gott nunmehr sein Gesetz ins Herz geschrieben und ihnen seinen Geist gegeben hat. Es soll nun nicht um die exegetischen Gegengründe zu dieser Auslegung gehen, sondern um eine bestimmte Facette der vom Vf. für Paulus angenommen ›covenant eschatology‹, die in den Kontrast der Äonen den Gegensatz von Israel und Kirche einträgt. Die ›einander anklagenden und verteidigenden Gedanken‹ aus Röm 2,15 stehen nämlich, wie der Fortgang von Röm 2 zeige, für die geistbegabten, gesetzestreuen Heidenchristen, die die jüdischen Toraübertreter im Endgericht überführen: »[T]he law-keep-ing gentile who accuses others while rightly exonerating himself (2:15) is the reversal of the law-breakting Jew who accuses others while wrongly exonerating himself (2:1)« (237, im Original kursiv). Von den »law-free but law-obedient gentiles« einerseits und den »law-possessing but law-transgressing Jews« andererseits gilt:
»The former [...] will judge the latter«. Wird also, sehr zugespitzt gefragt, das Endgericht, in das doch nach Röm 2,16 irgendwie das Evangelium mit hineinspielt, darin bestehen, dass Heiden Juden aburteilen? Im Vorwort bringt der Vf. seine bundestheologisch-eschatologische Paulusauslegung auf folgende Formel: »Paul’s contrast between the old and new covenants is […] an eschatological, two-age contrast between the era of Israel, during which the nation, separated from the presence of God, consistently broke the covenant, and the era of the church, in which God’s eschatological people made up of Jews and gentiles.« (XII)
Zwar besteht die Kirche hier ausdrücklich aus Juden und Heiden. Das wehrt aber nicht einem triumphalistischen Beigeschmack, der sich stets dort bemerkbar macht, wo von christlicher Seite der Gegensatz von Israel und Kirche aufgerufen wird. Ich möchte den Vf. nicht in der Weise bei diesen Sätzen behaften, dass ich das Ganze des Buches daran messe. Stattdessen möchte ich ihn fragen, welche Auffassung er von salvation history hat (ein für ihn durchgängig zentraler Begriff), und welchen Begriff von Geschichte überhaupt. Bestand in der paulinischen Zeichnung die Geschichte Israels bis auf wenige helle Einsprengsel und mit Ausnahme einer verschwindend kleinen Minderheit aus einer Folge dunkler Jahrhunderte, bis in den Tagen des Herodes der Messias geboren wurde? Die Diagnose, Israel sei »consistently« bundbrüchig und damit »separated from the presence of God« gewesen (XII), klingt jedenfalls rundheraus finster. Hat Paulus das so gesehen? Anders gefragt: Was meint die für den Vf. so zentral wichtige Phrase τὰ τέλη τῶν αἰώνων in 1Kor 10,11? Wie stark ist hier der Aspekt des Offenbarwerdens dessen, was immer schon galt, zu gewichten? Der Messias als finale Manifestation der Gnade, von der Israel und die Völker immer schon gelebt haben, und zwar nicht in einer Art ständiger Polarnacht, sondern unter Gottes heller Sonne, die aufgeht über Bösen und Guten? Man muss aber nicht Matthäus bemühen, um mit Paulus zu Rande zu kommen, denn dass dort, wo die Sünde mächtig geworden ist, die Gnade umso mächtiger geworden ist, steckt als Evangelium doch gerade in dem Skandal, dass die messianische Generation den Messias nicht versteht. Dass Gott hier sozusagen nicht die Nerven verliert, ist a maiore ad minus doch gerade eine gute Nachricht für die Heiden, also für uns. So lese (und lege) ich mir Paulus zurecht. Dass man mit Paulus nicht anders klarkommt, als dass man in enger Fühlung mit seinen Texten, am Ende aber doch in eigener Verantwortung einfache Sätze bildet, die man dann dem Ganzen des paulinischen Denkens zugrunde legt, weiß der Vf. viel besser als ich. Ihm ist zu bescheinigen, dass er die »comprehensive explanatory power« (4) seines Paradigmas an den Texten bis in mikrophilologische Streitfragen hinein erprobt und erwiesen hat. Dass das Gespräch weitergeht, versteht sich.