Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2000

Spalte:

443 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wulsdorf, Helge

Titel/Untertitel:

Umweltethik, Gerechtigkeit und verbandliche Selbstregulierung.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1998. 472 S. gr.8. Kart. DM 98,-. ISBN 3-506-79766-2.

Rezensent:

Markus Huppenbauer

Wulsdorfs Arbeit, betreut von Franz Furger und Udo Schmälzle, wurde im Wintersemester 1997/98 vom Fachbereich Katholische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Der mit 472 Seiten sehr lang geratene Text diskutiert in kenntnisreicher und komplexer Weise eines der neueren Probleme des Umweltdiskurses - die "verbandliche Selbstregulierung". Thema ist also die Bearbeitung von Umweltproblemen durch Industrieverbände (etwa der Mineralölwirtschaft, der chemischen oder der Zementindustrie).

Selbstregulierungen, so W., "stellen gegenüber staatlichen Regelungen subsidiäre Maßnahmen dar, das heißt, es steht der jeweils kleineren gesellschaftlichen Einheit zu, ihre Belange eigenverantwortlich und für alle Beteiligten und Betroffenen zufriedenstellend zu bewältigen" (19). "Subsidiäre Maßnahmen" sind deshalb sinnvoll, weil relevante gesellschaftliche Akteure (eben die Industrieverbände) mit ihrer Kompetenz unmittelbar zur Lösung der Umweltprobleme beigezogen werden. Mit dem Hinweis auf "alle Beteiligten und Betroffenen" ist schon zu Beginn des Buches signalisiert, dass das Thema dabei nicht das klassische "lobbying" wirtschaftlicher Interessenvertretung sein kann.

W. untersucht vielmehr, wie Gerechtigkeitsforderungen in den entsprechenden gesellschaftlichen Prozessen wirksam sind oder implementiert werden können. Dementsprechend ist der Beitrag der Sozialethik als theologischer Disziplin gemäß W. darin zu sehen, "daß sie auf ethisch relevante Fragestellungen aufmerksam macht sowie für diese sensiblisiert, eventuelle Verbesserungsvorschläge dialogisch ... einbringt und gesellschaftliche Prozesse flankierend begleitet" (440). So gesehen vollzieht W. eine Spielart einer "öffentlichen Theologie" (21).

W. legt seine Überlegungen in vier großen Kapiteln vor mit Ausführungen zur Methodologie christlicher Sozialethik (Kap. I., 23-82), zum Verbändewesen in Deutschland, ordungspolitischen Rahmenbedingungen und Selbstregulierungen im Umweltschutz (Kap. II., 83-220), zur Einführung bleifreien Benzins in Deutschland als Fallstudie (Kap. III., 221-328) und zu einer kritischen Würdigung von Selbstregulierungsmaßnahmen aus sozialethischer Perspektive (Kap. IV., 329-445). Insbesondere die detaillierte Fallstudie ist sehr interessant zu lesen. W. ermittelt aus dem entsprechenden Gesamtprozess immanente Ethosindikatoren wie "Kommunikation, Partizipation, Verantwortungsübernahme für die Realisierung umweltpolitischer Zielvorgaben, Transparenz und Kontrolle" (327). Diese bilden auf dem Hintergrund unbedingter Gerechtigkeitsforderungen eine allgemeine Bewertungsgrundlage für verbandliche Selbstregulierungsmaßnahmen im Umweltschutz. W. kommt zum Schluss, dass solche Maßnahmen einerseits "einen nicht zu gering zu achtenden Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft" (437) leisten und dass sie andererseits noch nicht ausgereift und Verbesserungen wünschenswert sind.

Ws. Arbeit teilt mit den meisten neuen, größeren Arbeiten zum Thema Umweltethik aus dem deutschsprachigen katholischen Raum (etwa Bernhard Irrgang und Wilfried Lochbühler) eine solide Kenntnis der relevanten umweltpolitischen und -rechtlichen Fakten und eine im Hinblick auf deren Komplexität adäquate Diskussion. Weniger zu überzeugen vermag in meinen Augen die Funktion, welche W. der theologischen Sozialethik zuordnet. Diese soll gemäß W. eine bestimmte "Wertgrundlage im Dialog mit den gesellschaftlichen Disziplinen einbringen" (67). Diese Wertgrundlage orientiert sich primär an den Gerechtigkeitskonzeptionen des Alten Testamentes und der neutestamentlichen Synoptiker. Paulus’ christologische Reflexion der Gerechtigkeitsfrage wird zwar erwähnt (52), um dann doch auf einen bloß "ethischen Leitbegriff" (53) zurückzugreifen. Dabei wird Gerechtigkeit primär im Hinblick auf "benachteiligte Interessen" (443) hin ausgelegt, und christliche Sozialethik als deren "Anwältin" (443), respektive die entsprechende christliche Wertgrundlage als "Motivationsgrund" (443) interpretiert. Das ist natürlich nicht verkehrt. Aber reicht es, um ein Spezifikum theologischer Ethik zu bestimmen? Werden mit dieser Anschließbarkeit an die "allgemein anerkannten Aspekte der Humanität und Gerechtigkeit" (35) nicht die spezifisch christlichen, anthropologischen Einsichten der Rechtfertigungslehre verspielt? Gerade wer wie W. (mit guten Gründen!) die Autonomie der Wissenschaften und Gesellschaftsbereiche so stark macht und entsprechend kenntnisreich analysiert, müsste eine analoge Ausdifferenzierung auch bezüglich der Theologie vollziehen. Allerdings wäre dann die unmittelbare ethische Operationalisierung des Begriffs der Gerechtigkeit in gesellschaftlichen Bereichen wie dem des Umweltschutzes nicht mehr möglich. - Trotz dieser kritischen Anfrage legt W. mit seiner Arbeit insgesamt einen für Spezialisten und Spezialistinnen im Bereich der Umweltethik sehr aufschlussreichen und informativen Text vor.