Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2021

Spalte:

274-277

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Frankfurter, David [Ed.]

Titel/Untertitel:

Guide to the Study of Ancient Magic.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2019. XX, 797 S. = Religions in the Graeco-Roman World, 189. Geb. EUR 249,00. ISBN 9789004171572.

Rezensent:

Dietmar Wyrwa

Der voluminöse, ca. 800 Seiten umfassend Sammelband will, worauf der Herausgeber David Frankfurter, der renommierte Religionswissenschaftler der Boston University, ausdrücklich Wert legt, kein Handbuch, kein Nachschlagewerk oder Kompendium zu Magie sein, wie es derzeit auf dem Büchermarkt zu allen erdenklichen Themen zahlreiche Beispiele gibt, sondern will Richtlinien entwickeln, wie ein zukünftiges Studium des komplexen Gegenstandes der Magie religionswissenschaftlich sachgemäß vorgehen könnte. Bekanntlich ist schon der Begriff selbst umstritten, weil er die aspektreiche Vielfalt der antiken Bezeichnungen, die er abzubilden vorgibt, tatsächlich nicht einbringen kann, aber andererseits neuzeitliche Implikationen, die weit von der Antike entfernt liegen, mit sich transportiert. So gibt es nicht wenige Gelehrte, die ihn ganz aus der wissenschaftlichen Diskussion verbannen möchten. Wenn man jedoch, woran dem Herausgeber aus guten Gründen liegt, in der Altertumswissenschaft an ihm festhalten und zu einem neuen Verständnis gelangen will, dann sei es unumgänglich, mit größtmöglicher Präzision den jeweiligen Wortgebrauch in seinem antiken Kontext zu erheben und dabei klar zwischen – in d er Terminologie der Kulturanthropologie von Kenneth Pike ge­sprochen –, dem »emic« Zugang und der »etic« Perspektive zu unterscheiden. Um dies zu gewährleisten, empfiehlt der Herausgeber als Arbeitsinstrument die Bezeichnung »ambiguous or illegitimate ritual«. Das scheint eine ganz offene, unbestimmte Formel zu sein, der keine sachfremden Konnotationen anhaften, faktisch entspricht sie aber recht genau dem funktionalistischen Paradigma, das Marcel Mauss seinem Magie-Verständnis zugrunde gelegt hat (nicht genannt, doch vgl. M. Mauss, Esquisse d’une théorie générale de la magie, L’Année sociologique 7, 1902/03; dt.: ders., Schriften zur Religionssoziologie, Berlin 2012, 237–402, bes. 257). Magie sei demnach weniger durch ein eigentümliches Weltverständnis als durch das in bestimmte soziologisch-gesellschaftliche Zusammenhänge eingebundene rituelle Handeln bestimmt: ein Ritual, das nicht Teil des öffentlich organisierten Kultes sei, sondern privat als Strategie zur Konfliktbewältigung im Verborgenen vollzogen werde und im Extremfall die Grenze zum Verbotenen überschreite. Indessen bleibt der Herausgeber nicht bei diesem sozialgeschichtlichen Ansatz stehen, sondern greift den neuesten Trend der Kulturwissenschaft, den »turn to materiality« auf (vgl. dazu etwa Hans Peter Hahn [Hg.], Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen. Berlin 2015), um die im Ritual intendierte Dimension übernatürlicher, paraphysischer Kraftwirkungen einzufangen. Zu untersuchen seien nicht nur Texte als solche, wie Instruktionen und Rezepturen, rituelle Formeln und Manuale, sondern ebenso archäologische Artefakte wie Amulette, Gemmen, Bleitäfelchen, Schalen, Figurinen oder architektonische Besonderheiten. Nicht dass diese an sich schon einen Begriff von Magie generierten, doch verstanden »in their own terms«, d. h. befragt nach den Umständen ihrer Entstehung, nach ihren Auftraggebern und den als Spezialisten agierenden Herstellern, nach ihrer Stofflichkeit und der Art und Weise ihrer Sammlung und Aufbewahrung reflektieren sie die Bestimmung zur praktisch rituellen Anwendung, die im Bewusstsein einer den Objekten inhärierenden übernatürlichen Wirkkraft, einer in ihnen anwesenden Po­tenz höherer Kommunikation vollzogen wird. Als »magisch« erweise sich demnach die Qualität bzw. die Dynamis, die an dem entsprechend präparierten Objekt gewissermaßen an ihm selbst ablesbar ist. So weit etwa die vom Herausgeber entwickelte Konzeption. Doch darf man dabei nicht die Sprengkraft aus dem Blick verlieren, die der Herausgeber dem »turn to materiality« zuschreibt: »… Materiality of Religion represents the ultimate repudiation of the Protestant legacy in Religious Studies, which had always held up the spiritual, intellectual, and transcendent as theologically superior to the idolatry of heathens, primitives, and Catholics« (18).
Wie dem auch sei, der Band ist nach dem Leitfaden dieser Konzeption aufgebaut. Auf den ersten Teil, in dem der Herausgeber sein Verständnis von Magie entwickelt, folgen drei weitere Teile, zu denen insgesamt 17 international renommierte Fachkollegen und Kolleginnen ihre Beiträge beigesteuert haben. Teil 2 behandelt »Cultural Constructions of Ambiguous, Unsanctioned, or Illegitimate Ritual«. In acht Aufsätzen, eingeleitet durch den Herausgeber, wird hier in einem diachronischen Gang durch die Kulturen der Alten Welt das vielfältige Vokabular in den verschiedenen Sprachen für »ambiguous or illegitimate ritual« analysiert und dessen Anwendung in den literarischen Konstruktionen solcher Handlungen illustriert. In der Regel wird die vorgegebene Fokussierung auf gesellschaftlich eher negativ konnotierte Phänomene sehr genau genommen, während positiv bewertete Akte deutlich zurücktreten. Die Beiträge stammen von Daniel Schwemer, Albert de Jong, Jacco Dieleman, Fritz Graf, Yuval Harari, Magali Bailliot, Joseph E. Sanzo und Jacques van der Vliet. Teil 3 behandelt »The Materials of Ancient Magic«. Wiederum eingeleitet durch den Herausgeber, sind hier acht Aufsätze versammelt, die wie in einem Repertorium herkömmlich als relevant erachtete materielle Überreste, seien es Papyri, seien es Artefakte, verzeichnen und »in their own terms« untersuchen, d. h. sie in ihrem historischen, religiösen, literarischen und handwerklichen Kontext erklären. Die Autoren sind Jacco Dieleman, Jacques van der Vliet, Esther Eidinow, Gideon Bohak, Véronique Dasen und Árpád M. Nagy, Andrew T. Wilburn, Roy D. Kotansky sowie nochmals Andrew T. Wilburn.
Und der letzte Teil 4 behandelt »Dimensions of a Category Magic«. Dieser Teil ist für die Durchführung der Gesamtkonzeption sicher der wichtigste, denn hier sollen tragfähige Parameter für die Bezeichnung »magisch« als »etic«-Kategorie bestimmt werden. Be­zeichnenderweise stammen denn auch vier Aufsätze von den insgesamt sieben – zusätzlich zu der Einleitung – vom Herausgeber selbst, mit denen er grundlegende Bereiche absteckt. Indem er der Frage nachgeht, unter welchen Bedingungen Sprache als Charakteristikum für Magie angesehen werden kann, transponiert er das Modell des performativen Sprachgeschehens, speziell des »illocutionary speech act« für die Interpretation magischer Sprechhaltungen, einschließlich unverständlicher Spezialsprachen. Im Blick auf die Frage ferner, unter welchen Bedingungen Schrift als für Magie bedeutsam erachtet werden kann, macht er die Erkenntnis fruchtbar, dass Schrift und Schreiben in einer archetypischen Bewusstseinsschicht nicht bloße, pragmatische Mittel zur Fixierung von Sprache sind, sondern einen eigenen Realitätsgehalt als ikonische Symbole der Repräsentation besitzen. Und in Beantwortung der für die Gesamtkonzeption zentralen Frage schließlich, unter welchen Bedingungen materiellen Substanzen rituell wirkmächtige, magische Qualitäten zugesprochen werden können, macht er mehrere Faktoren namhaft. Zugrunde liege das auch in der antiken Medizin bezeugte Verständnis, dass der Natur selbst, z. B. Steinen, Pflanzen, Flüssigkeiten u. s. w., heilende oder schädigende Kräfte innewohnen. Schon an sich versetze die im Ritual gebräuchliche ungewöhnliche Kombi nation, die »assemblage« von befremdlichen, bizarren Materialien die rituellen Objekte in eine der Alltagswelt enthobene Sphäre von irritierend bedrohlichen Wirkmechanismen. Auch fordere die Materialität von dergestalt präparierten Figurinen handgreifliche Reaktionen wie etwa Berühren, Bekleiden, Deponieren, Verletzen oder Zerstören unmittelbar heraus. Auch wenn im begleitenden Mythos die Wirkkraft des Rituals extern etwa von Göttern, Heroen, Priestern oder Spezialisten hergeleitet werden mag, so sind, dem Herausge-ber zufolge, die materiellen Objekte des Rituals doch nicht bloße Medien, die die Wirkkraft von außen vermitteln, sondern die Materialität selbst sei es, die die magische Wirkkraft in sich birgt (667.676, anders 730–732). Zwei weitere Aufsätze gehen den Beziehungen zwischen Magie und Mystik (Naomi Janowitz) sowie Magie und Theur gie (Sarah Iles Johnston) nach. Ein besonders dorniges Problem, das entgegen weitverbreiteter Ansicht keine eindeutigen, scharfen Grenzziehungen erlaubt, ist die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Magie. Dazu meldet sich noch einmal der Herausgeber zu Wort; jedoch geht er nur auf einen speziellen Teilaspekt ein: »the invocation and deployment of an authoritative tradition in a local performative context through the creative agency of a ritual expert and involving various ritual media« (722). Pate steht hier das reli-gionswissenschaftliche Modell des amerikanischen Ethnologen Robert Redfield, wonach die »Great Tradition«, d. h. die Religion in ihrer institutionalisierten und systematisierten Gestalt, von der »Little Tradition« – vom Herausgeber »Local Tradition« genannt –, d. h. von der in den Lebensrhythmus vor Ort eingebundenen und in lokaler Verehrung sich artikulierenden religiösen Praxis zu unterscheiden und Wechselwirkungen von beiden aufeinander zu beziehen seien. »Magie« bedeute dann die autoritative, beglaubigende Inanspruchnahme einer Großen Tradition auf lokaler Ebene im Ritual für private, unter Umständen zweifelhafte und subversive Zwecke zur Alltagsbewältigung. Indessen betont der Herausgeber, dass solche Rückbindung nicht als Missbrauch oder Missverständnis anzusehen sei, sondern lediglich als Gebrauch der entsprechenden Symbolwelt außerhalb der Großen Tradition (725 f.). Der letzte Aufsatz ist dem Thema von Magie und sozialer Spannung in antiken Gesellschaften gewidmet (Esther Eidinow).
Der umfangreiche Band kann als ein sehr hilfreiches Arbeits-instrument für das Studium auf dem weiten und umstrittenen Feld der Magie dienen. Vor allem die beiden stärker empirisch ausgerichteten Teile 2 und 3, wo wesentliche Bereiche des einschlägigen Materials abgedeckt und eine Fülle von wichtigen Informationen und instruktiven Erkenntnissen zusammengetragen sind, können einen geeigneten Ausgangspunkt für das zukünftige Forschungsgespräch bieten. Aber auch im letzten Teil finden sich wertvolle Beobachtungen. Natürlich ist Vollständigkeit auf einem Gebiet wie diesem ausgeschlossen – unterrepräsentiert ist die Kategorie der Offenbarungsmagie –, für weitergehende Beschäftigung ist jedoch jedem Beitrag – abgesehen von den Einleitungen – am Ende eine Liste mit »Suggested Readings« beigegeben. Und Register er­höhen die Brauchbarkeit dieses umfassenden Werkes.
Freilich, und auch das ist nicht verwunderlich, sind nicht alle Aufsätze gleich ergiebig. So verharrt das Kapitel 10 über das Frühe Christentum (Joseph E. Sanzo) lange bei Fragen der Terminologie ohne spektakuläres Ergebnis, geht aber nur knapp auf die Diskrepanz zwischen offizieller Verurteilung der als heidnisch-dämonisch gewerteten Magie einerseits und Fällen von privat praktizierter Ausübung von Magie andererseits ein und berücksichtigt liturgisch-kultisch vollzogene Handlungen wie exorzistische oder apotropäische Riten oder Heilungskult an Märtyrergräbern, was alles durchaus als magisch verstanden werden kann, gar nicht. Doch schafft das Kapitel 11 über das römische und byzantinische Ä gypten dafür den Ausgleich (Jacques van der Vliet). Wichtiger indessen ist etwas anderes. Im Gesamtkonzept scheinen dem Rezensenten gewisse Unklarheiten zu bestehen, die zu Rückfragen herausfordern. Womöglich sorgt die Kombination mehrerer heterogener Forschungsansätze für solchen Eindruck. Die entscheidende Frage scheint mir zu sein, was nach dem Herausgeber die magische Qualität eines Ritualobjektes konstituiert. Das sozialgeschichtlich-funktionalistische Verständnis, auf dem das Ge­samtkonzept ja ba­siert, setzt eine Absicht des magischen Rituals voraus und impliziert eine Bewusstseinshaltung der beteiligten Personen. Der Magier und sein Klient wollen eine Wirkung hervorrufen und haben eine Vorstellung davon, wie diese Wirkung zu erzielen ist. Magische Qualität kommt dem rituellen Akt durch den von dieser Vorstellung getragenen Handlungsablauf zu, wobei der mentale Faktor der ausschlaggebende ist. Das scheint streckenweise auch der Herausgeber so zu sehen. Im Zuge des neuen »turn to materiality« hingegen weist er in eine andere Richtung. Demgemäß sei magisch eine dem materiellen Objekt selbst inhärierende Qualität, und er legt allen Nachdruck darauf, dass die Materialität, ohne dass ein Faktor mentaler Beteiligung angenommen werden müsse, schon in ihrer Beschaffenheit ihre Bestimmung zu magischen Riten offenlege. Sprechakte und Schriftzeichen seien als Ersatzrituale naturgemäß materiellen Dingen gleichgeordnet. Konstitutiv sei eben die außergewöhnliche Wirkkraft, die dem Gegenstand in seiner Materialität als Qualität zu eigen ist, und zwar »agencies in objects, both within and beyond rituals« (606). Aber, so könnte man einwenden, nicht jedes Objekt ist magisch, und nicht jedes Ritual ist magisch. Hier besteht in den Augen des Rezensenten eine Unklarheit, die im Gesamtkonzept nicht zum Ausgleich gebracht ist.
Ein anderer Punkt, der zu Rückfragen Anlass gibt, betrifft das Modell von »Großer Tradition« und »Lokaler Tradition«. Im Hintergrund steht, hier weiter ausgebaut, des Herausgebers religionssoziologische Annahme, die er schon früher vertreten hat, dass angesichts des ökonomischen Niedergangs der offiziellen Tempelkulte Ägyptens in römischer Zeit entwurzelte lokale Priester sich für magische Privatrituale verdingen ließen (736). Diese These hat Anerkennung erfahren, sie wurde aber auch relativiert, was hier nicht weiter zu verfolgen ist. Was aber von Belang ist, ist die Frage, ob und inwiefern dieses Modell für die Christentumsgeschichte überhaupt ergiebig ist. Denn die kritische Trennungslinie verläuft m. E. nicht zwischen hoher Theologie und Volksfrömmigkeit vor Ort, sondern in dem schwer greifbaren, vor Ort angesiedelten Bereich zwischen kirchlich unter anderem Namen geduldetem magischen Brauchtum und abseits ausgeführten, meist der kirchlichen Kontrolle entzogenen subversiven Praktiken, wobei der vielfach synkretistische Charakter der magischen Rituale und das Agieren von »freelance experts« nochmals besondere Probleme bereitet. Dass auch in der großen Institution Kirche offenkundig magisch zu verstehende liturgische Handlungen offiziell vollzogen wurden (Exorzismen, Weihungen, Apotropäismen etc.) und mit magisch wirkenden Krafttaten herausragender Heiliger selbstverständlich gerechnet wurde, wie etwa die Vita Antonii des Athanasius, die Mönchsgeschichte des Theodoret und zahllose Predigten zu Heiligenfesten (z. B. Augustins Stephanus-Predigten) illustrieren, gibt der umfassenderen Frage nach dem Verhältnis von Magie und Religion gerade im Blick auf die Kirchengeschichte eine besondere Brisanz, und es ist nicht sicher, ob sie mit dem »turn to materiality« gelöst werden kann. Die zukünftige Forschungsdiskussion wird zeigen, inwieweit das in diesem Sammelband erarbeitete Gesamtverständnis von Magie zu einem neuen tragfähigen Konsens führen kann.