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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

222-224

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Winter, Roman

Titel/Untertitel:

Das christliche Martyrium im 20. Jahrhundert. Systematisch-theologische Studie zur Konzeption und Transformation des Begriffs aufgrund der Erfahrungen mit totalitären Regimen in Russland und Deutschland.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius Verlag 2020 448 S. = Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien, 82. Geb. EUR 39,90. ISBN 9783897108493.

Rezensent:

Helmut Moll

Bei dem von Roman Winter vorgelegten Werk handelt sich um eine vom Institut für Evangelische Theologie und Religionswissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommene Dissertation, die von Ulrike Link-Wieczorek betreut worden ist. Sie besteht aus fünf Kapiteln. Das erste Kapitel, »Einleitung« überschrieben, stellt die »Aktualität des Martyriums im Spiegel der Vergangenheit« (17) fest und behandelt die Absicht der Arbeit. Sie will die Kontinuität und auch die Diskontinuität des Begriffs »Martyrium« näher erforschen, seine Verbindung zur Gewaltthematik und den »Forschungsstand zum christlichen Martyrium im 20. Jahrhundert in Russland und Deutschland« (26) untersuchen. Insgesamt ist diese Dissertation der »Systematischen Theologie« (38) verschrieben.
Das zweite Kapitel, vom Obertitel der Dissertation nicht ge­deckt, beschäftigt sich mit den »Grundlinien vom Verständnis des christlichen Martyriums – Alte Kirche bis Reformation« (40), die »von Beginn an ein polychromes war« (41). W. behauptet: »Die spezifisch thanatologische Interpretation des griechischen Wortes ›Zeugnis‹ kommt in den biblischen/neutestamentlichen Schriften noch nicht vor« (46). Er stellt das Polykarp-Martyrium vor die Ignatiusbriefe und bekennt: »Die Ursituation des Martyriums und des vorher abgegebenen Zeugnisses ist das Verhör vor dem Gericht« (61). Er thematisiert die »Aufteilung vom blutigen und unbluti-gen Martyrium« (67), blendet aber das martyrium puritatis aus. Er spricht von der »Vielfalt der christlichen Martyrien im Mittelalter« (70), legt die Martyriumsidee des Thomas von Aquin vor (76) und weiß: »Nur in der Übereinstimmung von Wort und Handeln ge­schieht echtes Martyrium« (81). Durch »die Gedanken an die Leiden und den Tod des Herrn, die in Meditationen oder Praktiken« (86) des Spätmittelalters fokussiert wurden, konnte Martin Luther, fußend auf 2Tim 3,12 und Lk 11,50 f. einen Aspekt des christlichen Martyriums herausstellen: die »radikale Passivität der Märtyrerinnen, das reine Erleiden dieses Geschicks« (92). »Die katholische Erwiderung – das Konzil von Trient« (101) antwortet auf die von den »Reformatoren in der CA 21 vorgebrachten Bedenken« als »obsolet« (102). – Die Zeit des 17. bis 19. Jh.s bleibt ausgespart.
Mit dem dritten Kapitel »Christliches Martyrium in Deutschland und Russland im 20. Jahrhundert« (105) beginnt das zentrale Anliegen W.s. »Evangelische Kirche und ihre Märtyrerinnen in der Zeit des Nationalsozialismus« (108–183) konzentriert sich auf die Zeit des Nationalsozialismus, schaut aber auch auf die Opfer des Kommunismus (163–168). Die Konfliktgeschichte erfolgte »nicht öffentlich« (120), ja die den »Glauben fundierten Gründe« waren in nur »wenigen Ausnahmen rein religiöse Gründe« (121). Die »Gedenkliteratur« (124) bezieht die Monographien von Bernhard Heinrich Forck wie die von Werner Oehme ein, gefolgt von Jürgen Moltmann. Eberhard Bethge, der Freund Dietrich Bonhoeffers, erweitert das Martyriumsverständnis: ein freigewähltes Leiden, das nicht selbstgesuchte Martyrium, die Schuldsolidarität, der authentisch christliche Charakter und die Autorität des Todes (134). Die magistralen Arbeiten von Thomas Schirrmacher (Bonn), Christof Sauer (Gießen) und Ursula Büttner (Hamburg) bleiben unerwähnt. Breit wird das von der EKD herausgegebene Martyrologium »Ihr Ende schaut an … Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts« von Harald Schutze und Andreas Kurschat besprochen. Ob Suizidanten als Märtyrer gelten (112.151 f.160), wird problematisiert, bleibt aber ohne eigene Stellungnahme. Aufgenommen wurden »auch Personen, die ihren Glauben bekundet haben, nachdem sie die Kirche verließen« (150) – wiederum ohne Stellungnahme. Problematisiert werden ebenfalls die Fragen »Keine Theologie des Martyriums im Protestantismus?« (170–171) und die »Heiligen« (171). »Grundlinien der evangelischen Theologie des Martyriums im 20. Jahrhundert« (180–183) bilden den Abschluss. Wo bleiben die Freikirchlichen Märtyrer?
Dann folgt das Kapitel »Römisch-Katholische Kirche und ihre MärtyrerInnen in der Zeit des Nationalsozialismus« (184–252). Karl Rahner (198–205) und Hans Urs von Balthasar (206–211) werden dargestellt. Von Papst Johannes Paul II. initiiert, referiert W. ausführlich das »Martyrologium Germanicum« (214), vergleicht es mit den protestantischen Martyrologien, sieht Gemeinsamkeiten und Un­terschiede, reibt sich aber an den »Reinheitsmartyrien« (222, Anm. 180). Die Russisch-Orthodoxe Kirche kennt nach W. »keine solche Kategorisierung« (223, Anm.180), wird aber widerlegt durch Thekla von Ikonium, Serapia, Hripsime und Markella von Chios. Alsdann gibt er Roman Siebenrocks mimetisches Verständnis wieder (233–237). Bei Eberhard Schockenhoff wird die Erweiterung des Märty-r erbegriffs herausgestellt (238–247); man beachte aber auch die Bemerkungen in der Theologischen Revue 102 (2018), 48–49. Eine Zusammenfassung bildet den Abschluss (248–252).
Die »Konfliktgeschichte der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) in der Sowjetunion sowie die orthodoxe Theologie des Martyriums im 20. Jahrhunderts« (253–338) wird sodann behandelt. W. referiert die »Russische Kirchengeschichte 1917–1964« (255), über die »Entmachtung der Russisch-Orthodoxen Kirche« (279) mit »Kirchenschließungen, lokale(r) Verbote des Glockengeläutes, Verhaftungen und Behinderung beim Eintritt in geistliche Seminare« (283 f.), sodann die »Kanonisierung« (294) auch bei den »Neumärtyrerinnen« (315). Das Fazit: Märtyrer sind »zuerst und zuletzt« »die Qual Erduldende« (334); sie »kennzeichnen sich durch tätiges Zeugnis«; sie müssen »Demut, Selbstlosigkeit, Vergebung (den Mördern ge­genüber), Aufopferung – alles im Leben und bis in den Tod« (ebd.) erdulden.
Im vierten Kapitel »Annäherung und Differenz« (339–408) geht es um eine »systematische Bündelung der Zwischenergebnisse aus den einzelnen konfessionellen Abschnitten« (339). Dabei werden die »konfessionellen Profile im 20. Jahrhundert […] systematisch theologisch verglichen« (339). Das evangelische Verständnis ist »prozesshaft und transformativ« (340), beim katholischen ist die »ekklesiologische Funktion […] von Bedeutung«, »eingebettet in der Gewaltlosigkeit« (341), in der Russisch-Orthodoxen Kirche ist es »verborgen und opferbetont« (342). Bei allen ist der »Gehorsam der Nachfolge« (350) gefordert, ferner die »Treue zu ihrer Botschaft gerade im Schicksal des gemeinsamen Martyriums« (357), endlich die »Übereinstimmung vom Willen der Glaubenden mit dem Wil len Gottes« (365). Martyrium wird als ein »Geschick in Gottes Gnade verstanden« (381). Der »Topos der Solidarität« (384) wird mit »Heilsnähe und Sittlichkeit« (384), aber auch mit »Leid und das Kreuz« (387) konkretisiert.
Das fünfte Kapitel »Essayistischer Anhang« (409–425) thematisiert »Gewalt – Wehrlosigkeit« (409–414) und die »ökumenische Deutung des christlichen Martyriums« (414–418). Die Beiträge der Kardinäle Walter Kasper und Kurt Koch auf katholischer und das von Peter P. J. Beyerhaus herausgegebene »Weltweite Gemeinschaft im Leiden für Christus« (Nürnberg 2007) auf evangelischer Seite finden keine Erwähnung. Der Artikel »Selbstmordattentat – oder das Dämonische und das Martyrologische« (418–525) hinterlässt viele Fragen.
Lang ist das »Literaturverzeichnis« (427–448); lies »Rahner« (444). Es fehlt ein Sach- und Namenregister. – Der Band verdient eine kritische Leserschaft.