Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2021

Spalte:

211-214

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dreier, Horst

Titel/Untertitel:

Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2018. 256 S. Geb. EUR 26,95. ISBN 9783406718717.

Rezensent:

Lorenz Kähler

Ob der Staat mit oder ohne Gott ist, kann man als theologische Frage nur beurteilen, wenn man weiß, wo Gott wirkt. Das Staatsrecht und die Staatstheorie mögen ihn aus ihren Überlegungen ausklammern, vermögen aber nicht, ihn zu beschränken. Daher verwundert es, dass das zu besprechende Buch einen Staat ohne Gott postuliert – als ob es menschliche Entscheidung sei, Gott einen Platz zuzuweisen. Horst Dreier stellt im weiteren Text zwar klar, dass er damit die Neutralität und Säkularität des Staates meint. Das übergeht indes den Unterschied zwischen einem Staat ohne Gott und einem Staat ohne Inanspruchnahme Gottes. Der erste ist eine Vorstufe zur Hölle, im letzteren kann das Himmelreich nah sein.
Wer sich durch einen derartigen, offenbar auf Drängen des Verlags zustande gekommenen Titel (nach Barbara Just, Verfassungsrechtler diskutieren, Domradio.de vom 11.12.2018, fand der Verlag den zunächst vorgeschlagenen Titel »Der säkulare Staat« zu »langweilig«) nicht irritieren lässt, findet in D.s Buch ein gut nachvollziehbares Plädoyer für die religiöse Neutralität des Staates. Gegliedert ist es in sechs Kapitel, die teils historisch, teils verfassungsrechtlich und teils sozialwissenschaftlich die Neutralität und Säkularität des Staates erläutern sowie verlangen. Das erste Kapitel beschreibt die Vielfalt des Säkularisierungsbegriffs, der u. a. für nicht mönchisch lebende Geistliche, für die Enteignung von Kirchengut und für den Rückgang der Kirchenmitgliedschaft verwendet wurde. Während D. dabei viel Raum für die Widerlegung von Blumenbergs Verständnis von Säkularisierung als einer Kategorie der Illegitimität widmet, stellt er die eigene Position nur kurz dar. Unter Säkularität versteht er neben der Gewährleistung der Religionsfreiheit einen mehrfachen Verzicht, und zwar auf Transzendenz als Begründungsressource, auf die Identifikation mit einer Religionsgemeinschaft, auf die Einmischung in deren innere Angelegenheiten und auf ein Votum in religiösen Wahrheitsfragen.
Das sind mindestens fünf verschiedene Thesen, deren Unterschiede hinter den Begriffen Säkularität und Neutralität kaum noch auszumachen sind. Daher entsteht die im weiteren Text präsente Gefahr, dass die Argumente für eine der Thesen zwar plausibel sind, jedoch nicht die weiteren Thesen implizieren, die auch noch mit dem Begriff der Neutralität oder Säkularität verbunden werden. Wer etwa im Namen der Säkularität strikt gegen eine Einmischung des Staates in die Kirchen und für eine weitgehende Religionsfreiheit ist, muss dem Staat in dessen Binnenbereich nicht untersagen, am religiösen Leben teilzunehmen und insoweit mit den Kirchen zu kooperieren, etwa wenn es um einen Gottesdienst vor der Eröffnung des Bundestages geht. Mit der von D. befürworteten strikten Neutralität ist das nicht vereinbar.
Das zweite Kapitel schildert in Kurzform die verfassungsrechtliche Entwicklung der Religionsfreiheit. Dazu skizziert es in einer wohlmeinenden Fortschrittsgeschichte wesentliche Stationen vom Augsburger Religionsfrieden bis hin zur Paulskirchenverfassung. Die Erinnerung daran ist als Hintergrund für die folgende Darstellung hilfreich, auch wenn die Brüche und Probleme, wie sie nicht zuletzt in den totalitären Staaten des 20. Jh.s aufgetreten sind, kaum Erwähnung finden. Sie aber prägen als Kontrastfolie auch noch die heutige Religionsfreiheit.
Kapitel 3 ist das zentrale und längste des Buchs. Es dient der Darlegung, was die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates im Einzelnen meint. D. räumt ein, dass diese nicht im Verfassungstext verankert ist, hält das aber mit der tradierten Rechtsprechung für unproblematisch, weil sich das Neutralitätsgebot aus einer Gesamtschau grundgesetzlicher Normen ergebe (96). Kurz darauf betont er allerdings, dass das Neutralitätsgebot offenbar mehr als die zu seiner Herleitung herangezogenen Einzelnormen enthalte, weshalb man gern genauer gewusst hätte, woraus sich dieser überschießende Gehalt denn ergeben soll. Gerade wenn man wie D. Rationalität und Nüchternheit betont, sollten einen Argumentationsfiguren wie eine Gesamtschau von Normen skeptisch stimmen, solange sie methodisch nicht näher reflektiert sind. In der Rechtsprechung stellt diese Figur eine seltene Verlegenheitslösung dar, wenn der Verfassungstext weit hinter den Verfassungsüberzeugungen der beteiligten Richter zurückbleibt.
Umsichtig entfaltet das Buch sodann einzelne Komponenten der Neutralität wie die institutionelle und sachliche Nichtidentifikation des Staates mit einer Religion sowie das Diskriminierungsverbot. Prononciert betont D. gegen Habermas, dass der politische Prozess dadurch nicht eingeschränkt werde (109), so dass damit etwa in einer parlamentarischen Debatte religiöse Argumente zulässig bleiben. Damit gerät allerdings die vorherige Forderung unter Druck, auf Transzendenz als Begründungsressource zu verzichten. Ferner unterscheidet D. zwischen der Wirkungs- und der Begründungsneutralität, von der er nur letztere für geboten hält. Allerdings behandelt er dabei nicht die Inhaltsneutralität von Normen, die sich dieser Dichotomie entzieht. Gerade diese Neutralität ist prekär, etwa wenn es um den Schutz des Sonntags oder um die Militärseelsorge geht. Das gewachsene, verfassungsrechtlich gut abgesicherte Staatskirchenrecht schleppt so viele historische Kompromisse mit sich, dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn es sich ohne Reibungsverlust auf einen einzigen Begriff wie den der Neutralität bringen ließe. Gelegentlich hat man daher den Eindruck, dass D. die Ebene des geltenden Rechts verlässt und für dessen Reform eintritt, was allerdings nicht immer deutlich voneinander unterschieden wird.
D. wird derartige Bedenken geahnt haben und widmet die beiden folgenden Kapitel daher Einwänden gegen die Neutralitätsthese. Dabei wendet er sich zunächst gegen die Vorstellung, auch der säkulare Staat trage sakrale Elemente in sich, behandle etwa die Verfassung als Mythos oder weise religiöse Tiefenstrukturen auf. D. entfaltet dabei einen nicht unsympathischen Eifer gegen Phantasmen wie vom Staat als »erotisches Liebesobjekt«, erweist ihnen in der Intensität der Auseinandersetzung aber noch zu viel Ehre. Denn interessanter als feuilletonistische Übertreibungen ist die Frage nach der Verwandtschaft religiöser und rechtlicher Praktiken, die man punktuell auch dann konstatieren kann, wenn man sie in der Sache ablehnt. Wenn eine Verfassungsrichterin etwa durchs Land reist und zur Bekräftigung dessen, was sie sagt, ein schwarz-rot-goldenes Grundgesetz in die Luft streckt, ist eine symbolische Verehrung erreicht, die einen durchaus an den Umgang mit heiligen Texten erinnern kann. D. betont daher vollkommen zu Recht, dass das Grundgesetz keine Bibel und ein »Verfassungsexeget kein Hohepriester« sei (154) – nur stellt sich die Frage, ob diese Unterschiede in der Praxis durchgehend beachtet werden. Das behauptet zwar auch D. nicht. Jedoch beschränkt sich damit sein Widerspruch gegen sakrale Elemente im säkularen Staat auf die normative Beurteilung und trifft nicht mehr die Beschreibung der Staatspraxis.
Das folgende Kapitel 5 soll vom »Präambel-Gott« handeln. Der Begriff erinnert eher an einen Juristen oder Poeten, der viel von Verfassungstexten versteht, als dass damit der Gott angesprochen ist, auf den die Präambel des Grundgesetzes tatsächlich verweist. D. schildert deren schwierige Entstehung und deutet sie im An­schluss an Wiegand als »Programm der Humanität und Selbstbescheidung« (184). Ein derartiges Verständnis als Demutsformel erfasst sicherlich einen wichtigen Aspekt, aber verkürzt den Bezug auf Gott. Vor einem Programm kann man keine Verantwortung haben, von der das Grundgesetz indes ausgeht. Die Regulierungskraft der Präambel mag, wie D. betont, gering sein, nur bleibt er darin hinter seinen eigenen Forderungen zurück. Denn wenn das Verbot der Identifikation mit einem Glauben wirklich strikt durchgeführt wäre, müsste der Gottesbezug in der Präambel für Atheisten wie für Gläubige in gleicher Weise annehmbar sein. Das lässt sich kaum behaupten. Die Präambel bleibt daher ein Stachel, am dem sich noch mancher wird stoßen müssen.
Das abschließende Kapitel ist dem überstrapazierten Satz von Böckenförde gewidmet, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Mit klagendem Unterton wird die Prominenz des Satzes zunächst geschildert, dann aber erneut gestärkt, indem seine Entstehung und spätere Interpretation durch Böckenförde mit viel Liebe fürs Detail entfaltet werden. Das ist interessant und zeigt große Kenntnis, lässt allerdings zugleich die Frage aufkommen, was »Ferienseminare« und persönliche Animositäten unter Staatsrechtslehrern (190) argumentativ austragen, wenn es um die viel größere Frage geht, worauf der »Staat ohne Gott« denn nun tatsächlich beruht. Wie gewiss kann man sein, dass ein Staat nicht auf Abwege gerät, wenn sich seine Vertreter keinem Gott gegenüber für verantwortlich halten? Wie lange bleibt ein Staat freiheitlich, wenn in ihm Menschen an Einfluss gewinnen, die Freiheit unter den Vorbehalt stellen, sie müsse mit ihrem Glauben vereinbar sein? Kann ein Staat Freiheit tatsächlich nur gewähren, wenn er diese »aus der Homogenität der Gesellschaft« reguliert, was Böckenförde im Anschluss an den zitierten Satz behauptet hatte, ohne dass dies heute meist mitzitiert, geschweige denn mitdiskutiert wird?
Derartige sich aufdrängende Fragen zeigen, dass D. ein überaus wichtiges Thema angesprochen und eine wichtige Debatte fortgeführt hat. Dass er dabei die Neutralitätsthese so konsequent wie eloquent ausdehnt, kann die Diskussion nur fördern. Denn mit ihr wird eine Position gut sichtbar, die sonst vielfach nur unterschwellig und grobrastig vertreten wird. Dadurch wird es auch leichter, ihr zu widersprechen.