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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

194-197

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Thierfelder, Jörg, Janowski, Hans-Norbert, u. Günter Wagner

Titel/Untertitel:

Kirche – Sozialismus – Demokratie. Gotthilf Schenkel – Pfarrer, Religiöser Sozialist, Politiker. Vorwort v. E. Eppler.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 277 S. m. 47 Abb. = Geschichte Württembergs. Impulse der Forschung, 3. Kart. EUR 28,00. ISBN 9783170335936.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Die tiefenscharfe Auslotung einer kirchengeschichtlichen Epoche kann sich nicht damit begnügen, die Voraus-, Mit- und Nachläufer der großen Bewegungen ins kritische Visier zu nehmen, sondern schuldet daneben immer auch den randständigen Solisten, zumal wenn diese spürbar Einfluss und Wirkung ausübten, differenzierende Aufmerksamkeit. Dies gilt nicht zuletzt für die Zeit des im 20. Jh. in Deutschland geführten Kirchenkampfes, dessen dominante Wahrnehmung bis heute in dem Zerrbild der vermeintlich geschlossenen Fronten, die sich als Deutsche Christen und Bekennende Kirche gegenüberstanden, verkrustet ist.
In dieser Hinsicht leistet der anzuzeigende, vielfältiges Quellen- und Archivmaterial auswertende, opulent bebilderte Band hilfreiche Aufklärung. Er wurde von einem Autorentrio verfasst, dies freilich nicht in kollektiver Präsentation, sondern in präzise nachgewiesener Arbeitsteilung. Das führt bisweilen zu kleinen sachlichen Wiederholungen, die man aber klaglos akzeptieren, vielleicht sogar als willkommene mnemotechnische Hilfestellungen dankbar begrüßen mag.
Gotthilf Schenkel war ein Einzelgänger wider Willen und be­sonderer Art (ihn als »Querdenker« [8] zu bezeichnen, könnte in Corona-Zeiten falsche Assoziationen erwecken). Der 1889 geborene Sohn eines Missionars bestand im Frühjahr 1914 in Tübingen als Jahrgangsbester das Erste Theologische Examen, nachdem ihm sein dortiges Studium die Tradition der kulturprotestantisch orientierten liberalen Theologie zur geistigen Heimat hatte werden lassen. Nach kurzer erster Vikarszeit meldete sich Schenkel im August 1914 freiwillig zum Kriegsdienst; seine ungebrochene na­tionalpatriotisch temperierte Abschiedspredigt (vgl. das Faksimile, 192–205) gab er kurz zuvor in den Druck. Wenig später wandelte er sich zum liberalprotestantischen Pazifisten. Dazu trugen seine Kriegserlebnisse ebenso bei wie die Begegnung mit der Ökumenischen Bewegung und die Verehrung für Mahatma Gandhi, den er 1931 in Lausanne auch persönlich kennenlernte und dem er 1949 eine umfassende Biographie widmete. Als felddienstunfähig aus dem Militär entlassen, setzte Schenkel 1915 sein Vikariat in der heute als Stadtteil zu Stuttgart gehörenden, damals selbständigen Arbeitergemeinde Zuffenhausen fort, wo er im September 1918 in eine Stadtpfarrstelle aufrückte.
Früh nahm Schenkel auch politische Verantwortung wahr. Die republikanisch gesinnte DDP, der er unter dem Einfluss Friedrich Naumanns bald nach Kriegsende beigetreten war, verließ er 1928, weil sie vor Ort eine Listenverbindung mit der NSDAP eingegangen war. Unmittelbar danach trat Schenkel der SPD sowie dem »Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands« bei. Suchte er damit zwischen bürgerlicher Kirchlichkeit und Arbeiterschaft eine Brücke zu schlagen, so hoffte er mit seinem Eintritt in eine Loge der Freimaurer die Schicht der entkirchlichten Gebildeten und Begüterten erreichen zu können. Seine 1926 veröffentlichte Dissertation trug den Titel »Die Freimaurerei im Lichte der Religions- und Kirchengeschichte«.
Signifikant ist die breite publizistische Tätigkeit Schenkels. Als Herausgeber des Prachtbandes »Der Protestantismus der Gegenwart« (1926, 31929) konnte er viele namhafte Theologen, darunter Emil Brunner, Otto Dibelius, Karl Heim und Reinhold Seeberg, zur Mitarbeit animieren. Indessen schuf er sich mit der Monographie »Das Doppelgesicht des Christentums« (1931) keine Freunde: Von der Diagnose, es sei »eine Bewegung […] im Gang, die anstelle des dogmatischen Christentums ein praktisches, ethisches Christentum erstrebt« (38), fühlte sich die württembergische Kirchenleitung brüskiert, und die schroffe Ablehnung der Dialektischen Theologie und namentlich Karl Barths, denen er »hysterische Lebensfeindschaft« (78) und eine durch »dialektische Begriffsspielerei« (81) kaschierte »Versündigung an der Jetztzeit« (45) vorwarf, verbaute ihm bald darauf jede Kooperation mit der Bekennenden Kirche.
Nicht weniger kompromisslos zog Schenkel schon früh gegen die politische und theologische Gefährlichkeit des Nationalsozialismus zu Felde. In zahllosen Vorträgen, Schriften, Zeitungsartikeln oder dem Aufsatz »Der lebendige Christus und der Hitlersturm« (vgl. das Faksimile, 214–230) entlarvte er das Gerede vom »positiven Christentum« als eine neuheidnische Beschwörung dämonischer Instinkte und fanatischer Leidenschaften und positionierte sich so entschieden wie kaum ein anderer Pfarrer Württembergs gegen die Hitlerpartei. Im Frühjahr 1933 kulminierte die Vereinsamung Schenkels: Die Kirchenleitung hielt ihn zu strikter parteipolitischer Enthaltsamkeit an, während SA-Truppen vor dem Pfarrhaus fortgesetzt eine Drohkulisse aufbauten. Bald musste Schenkel Zwangsurlaub nehmen, wurde aus seiner Pfarrstelle abgezogen und zum Pfarrverweser in dem im äußersten Osten Württembergs gelegenen Ort Unterdeufstetten degradiert. Rasch gewann er dort, wie zuvor schon in Zuffenhausen, die Ohren und Herzen seiner Gemeinde, war als Prediger, Lehrer und Seelsorger wirklich geschätzt und fand stabilen Rückhalt sowohl bei den einfachen Gemeindegliedern wie auch bei der Schlossherrschaft derer von Seckendorff. Allerdings geriet er nun erst recht in sich fortwährend verschärfende Konflikte mit dem nationalsozialistischen Staat; immerhin konnte die Kirchenleitung, als ihm 1943 Gestapo-Haft drohte, das Schlimmste verhindern.
Unmittelbar nach Kriegsende trat Schenkel, seine früheren Anschauungen fortführend, wieder publizistisch hervor. Dabei rief er nun das »Rettungsdreieck« aus »Kirche, Sozialismus und Demokratie« (137) als Bollwerk gegen Diktatur, Krieg und Rassenwahn aus. Indem Schenkel die Weltverantwortung des Glaubens ins Zentrum seiner Überlegungen rückte, wollte er, das kulturprotestantische Vermächtnis aktualisierend, nicht eine »Säkularisierung des Christentums«, sondern eine »Christianisierung des öffentlichen Lebens, das heißt […] eine Durchdringung des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens mit christlichem Geist« (144) erwirken.
Ohne jede lokalpatriotische Glorifizierung rekonstruieren die drei Esslinger Autoren sodann die berufliche Kulminationsphase Schenkels. 1947 übernahm er die Stadtpfarrstelle in Oberesslingen, entfaltete dort breite, teils auch neuartige Aktivitäten des Gemeindeaufbaus (z. B. Goldene Konfirmation) und warb in vielgestaltigen öffentlichen Verlautbarungen für sein Programm einer theologia publica (185). Daneben versah er an der Technischen Universität Stuttgart einen Lehrauftrag für Ethik und Allgemeine Religionswissenschaft. Zugleich reüssierte er nun auch als SPD-Politiker: Schenkel errang Direktmandate als Stadtrat und Landtagsabgeordneter, im Januar 1951 berief ihn Ministerpräsident Reinhold Maier zum Kultusminister des Landes Baden-Württemberg. In der letztgenannten Funktion oblag ihm insbesondere der Aufbau einer landesweiten Schulverfassung, die er mit wichtigen Gesetzgebungen zu Gunsten der christlichen Gemeinschaftsschule stabilisierte. Dass er auch jetzt, wo es ihm geboten schien, den Konflikt keineswegs scheute, manifestierte sich nicht zuletzt in seinem Versuch, die Tübinger Berufungsliste zur Nachfolge des Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger zu torpedieren, weil er, wie man vermuten kann, den dort erstplatzierten Otto Friedrich Bollnow wegen dessen vorigem NS-Mitläufertum beargwöhnte.
Im Ruhestand – der Pfarrdienst endete 1952, das Ministeramt ein Jahr später – setzte Schenkel sein Engagement bei den Religiösen Sozialisten sowie in der Kommunalpolitik fort, dazu versah er etliche arbeitsaufwändige Ehrenämter. Als ihm 1959 das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen werden sollte, wies er diese Ehrung zurück, weil er sich durch Adenauers Äußerungen zur SPD, die er als diffamierend empfand, persönlich gekränkt sah. Schenkel erfreute sich beständiger Tatkraft und Vitalität, bis er im Dezember 1960 überraschend verstarb.
Der Band wird durch einen üppigen Anhang bereichert. In der »Dokumentation« (191–261) finden sich zentrale Schriften, Akten, Briefe und Zeitungsberichte, größerenteils als Faksimile, wiedergegeben. Hilfreich sind auch eine ausführliche Bibliographie Schenkels, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie das detaillierte, nach Möglichkeit mit Lebensdaten versehene Personenregister.
Die Überschrift des summierenden letzten Kapitels »Ein liberaler Theologe und demokratischer Sozialist« (179) bringt die Bedeutung Schenkels auf den Begriff. Hier ist es den Autoren gelungen, Wesen und Wirken dieses interessanten theologischen Einzelgängers ebenso differenziert wie bündig zusammenzufassen. In dieser Hinsicht hatte schon seine letzte Gemeinde Klarsicht bewiesen, indem sie in ihrem 1952 publizierten »Dank an den scheidenden Pfarrer« zu verstehen gab: »Aus allem, was man von Pfarrer Dr. Schenkel hörte, las oder sah, konnte man erkennen, daß er nichts anderes wollte, als das Christentum zu verwirklichen, das Chris-tentum nicht nur zu erleben, sondern wirklich zu leben.« (261) Unbeschadet anderer Bezüge steht Gotthilf Schenkel nicht zuletzt dafür gut, dass es neben der Bekennenden Kirche auch einen ponderablen liberalprotestantischen Widerstand gegen das Hitlerregime gegeben hat. »Diese profilierte Gestalt […] wieder ins öffent-liche Gedächtnis von Gesellschaft und Kirche« (188) gerufen zu haben, ist das große, bleibende Verdienst des Buches und seines autorschaftlichen Triumvirats.