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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

182-184

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hirzel, Martin Ernst, u. Frank Mathwig [Hgg.]

Titel/Untertitel:

»… zu dieser dauernden Reformation berufen«. Das Zweite Helvetische Bekenntnis: Geschichte und Aktualität.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2020. 262 S. = reformiert!, 8. Kart. EUR 33,90. ISBN 9783290182106.

Rezensent:

Frank Jehle

Bei der Confessio Helvetica posterior (CHp) handelt es sich »um einen klassischen und bezüglich Wirkungsgeschichte schwer zu überschätzenden Text« – so Ariane Albisser und Peter Opitz im hier vorzustellenden Sammelband (95). Die CHp wurde zuerst um 1560 von Heinrich Bullinger, Zwinglis Nachfolger in Zürich, als Privatbekenntnis verfasst. Es herrschte eine Pestepidemie, von der auch die Familie des europaweit vernetzten Antistes der Zürcher Kirche betroffen war. Er selbst rechnete mit seinem Tod. Die CHp sollte zu Händen seiner Nachkommen ein Anhang seines Testaments sein. Sie sollten wissen, was ihn sein Leben lang bewegte.
Doch ab 1566 war die CHp mehr als eine persönliche Stellungnahme: Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz musste sich vor dem Reichstag verantworten, weil man ihm vorwarf, als »Calvinist« ein Häretiker zu sein. Er bat Bullinger um Hilfe bei seiner Verteidigung, und dieser stellte sein persönliches, nur leicht überarbeitetes Bekenntnis zur Verfügung. Um diesem das nötige Gewicht zu geben, wurde es von den reformierten Ständen der Eidgenossenschaft »adoptiert«. Die »Diener der Kirche Christi […] zu Zürich, Bern, Schaffhausen, St. Gallen, Chur und in den Drei Bünden, ebenso zu Mülhausen und Biel« sowie »die Diener der Genfer Kirche« unterschrieben »einmütig«, um »allen Gläubigen zu bezeugen, dass sie in der Einheit der wahren und alten Kirche Christi stehen, keine neuen und irrigen Lehren verbreiten und daher auch nichts mit irgendwelchen Sekten oder Irrlehren gemein haben« (Das Zweite Helvetische Bekenntnis. Confessio Helvetica Posterior etc. Hgg. vom Kirchenrat des Kantons Zürich etc. Übers. v. W. Hildebrandt u. R. Zimmermann. Zürich: Zwingli Verlag 1966, 9). Nur das lutheranisierende Basel wartete mit der Zustimmung bis 1585.
Die CHp wurde ein internationaler Großerfolg: Spontan stellten sich die Reformierten in Polen, Schottland und Ungarn, wenig später auch die Hugenotten Frankreichs sowie die Reformierten der Niederlande dahinter. Noch heute nennen sich die Reformierten Österreichs: »Evangelische Kirche Helvetischen Bekenntnisses« (abgekürzt: »Evangelische Kirche H. B.«). Die CHp figuriert auch in »The Book of Confessions« der Presbyterian Church (USA) von 1994.
In Helvetien selbst sieht es heute weniger günstig aus. Seit 1803 werden die reformierten Zürcher Pfarrer nicht mehr auf die CHp verpflichtet. (In den 60er Jahren des 19. Jh.s wurde auch das Apostolikum als freiwillig erklärt, worauf es praktisch fast völlig verschwunden ist.) Immerhin: Die Zürcher Kirche ist offiziell immer noch stolz auf den klassischen Text: 1866 und 1966 lud sie zu pompösen Jubiläumsfeiern ein. Und das hier anzuzeigende Buch geht auf ein hochkarätig besetztes Symposium im Jahr 2016 zurück. Zu ihrem 450. Geburtstag wollte man die CHp von verschiedenen Seiten neu beleuchten. Als Referierende wirkten mit: Ariane Albisser, Zürich; Luca Baschera, Zürich; Michael Beintker, Münster (Westf.); Jan-Andrea Bernhard, Strada im Oberland; Amy Nelson Burnett, Lincoln/USA; Emidio Campi, Zürich; Eva-Maria Faber, Chur; Bruce Gordon, New Haven/USA; Martin Ernst Hirzel, Bern; Frank Mathwig, Bern; Peter Opitz, Zürich; Martin Sallmann, Bern und Christiane Tietz, Zürich. Das Geleitwort schrieb der damalige Vorstandspräsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds (heute Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz), Gottfried Wilhelm Locher.
Es versteht sich von selbst, dass im Rahmen einer kurzen Besprechung nicht auf alle Beiträge eingegangen werden kann. Im Ganzen zeigt das Buch, wie faszinierend die CHp auch heute noch ist. Gemäß Bruce Gordon »sind es die Klugheit und relativ milde Polemik des Werkes, die es so ansprechend machen« (246). Gordon zitiert die Verantwortlichen für die heute maßgebende Übersetzung ins Deutsche, Walter Hildebrandt und Rudolf Zimmermann, die 1938 formulierten:
»Mit Fug und Recht darf das Zweite Helvetische Bekenntnis als die Quintessenz der gesamten reformierten Glaubensentwicklung und als Abschluss der reformierten Reformation überhaupt bezeichnet werden. In ihm sind nämlich alle jene Gedanken und Glaubenslehren abschliessend – für die Reformationszeit wenigstens – aufgezeichnet in der Form, wie sie sich durch die theologische Arbeit der Reformation und ihrer Nachfolger schliesslich ergab und wie sie in allen reformierten Kirchen Anerkennung gefunden hat.« (246)
Und ebenfalls Bruce Gordon:
»Nur Bullinger hatte das Format, ein religiöses Bekenntnis hervorzubringen, das für die breite und vielgestaltige Gemeinschaft reformierter Chris-ten sprechen konnte – nicht als verbindliches Dokument, sondern als Bestandesaufnahme der Grundlangen reformierter Theologie und Ekklesiologie.« (244)
Viele der am Zürcher Symposium Referierenden betonen die »Ka­tholizität« beziehungsweise »Ökumenizität« der CHp. Diese – so Michael Beintker – biete »eine Ekklesiologie, die man als ebenso irenisch wie weitsichtig charakterisieren kann«. (236) Bruce Gordon spricht von Bullingers »Idee von Einheit aus Vielfalt« (245). Und so Michael Beintker: »Katholizität schliesst konfessionelle Vielfalt nicht aus, sondern ein.« (239) »[Ö]kumenische Aufgeschlossenheit« gehört »zu den Kennzeichen der wahren Kirche« (234).
Weiterführend sind die Ausführungen von Eva-Maria Faber über »Die Confessio Helvetica posterior aus römisch-katholischer Sicht«. Minutiös zeichnet sie nach, wie – in der Regel sehr ablehnend! – die römische Theologie im Verlauf der Jahrhunderte mit der CHp umgegangen ist. Und dann nimmt sie den Text selber vor, und es gelingt ihr, zu zeigen, wie ökumeneverträglich er ist. Seine Rechtfertigungslehre »könnte ein hilfreicher Baustein für das Bemühen sein, in dem die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen steht, sich der Gemeinsamen Erklärung zwischen dem Lutheri schen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche anzuschliessen und zu ihr beizutragen« (201). Die CHp dürfe als ein Dokument angesehen werden, das die Spannung zwischen dem sola gratia und der Aktivität des Menschen »auf gelungene Weise integriert« (ebd.). – Mehrfach wird im hier besprochenen Sammelband die dazugehörige Formulierung Bullingers angeführt: »Sie werden nämlich von Gott getrieben, dass sie selber tun, was sie tun (aguntur enim a Deo, ut agant ipsi, quod agunt)« (90, vgl. auch 72).
Des Weiteren hebt Eva-Maria Faber hervor, dass gemäß der CHp das Bekenntnis der Kirche grundsätzlich überbietbar und nach vorne hin offen ist. »Diese Haltung der Selbstrelativierung gab der reformierten Tradition die Stärke, flexibel auf fortschreitende Einsichten in die kulturelle Bedingtheit kirchlicher Lehrtraditionen zu reagieren.« (217) An diesem Punkt meint Eva-Maria Faber, das heutige Rom könnte von Bullinger lernen:
»Meine ökumenische Vision wäre es, dass Reformierte und Katholiken sich der Spannung zwischen dem Anliegen der Verbindlichkeit einerseits und der Notwendigkeit kritischer Überprüfung von Lehraussagen andererseits gemeinsam stellen könnten. In gegenseitiger Abgrenzung gibt es für das Problem keine Lösung, während es vielleicht in gegenseitiger Ergänzung gelingen könnte, die Gratwanderung zu meistern.« (219)
Alles in allem: Ein reichhaltiges und empfehlenswertes Buch! Schade ist, dass Register fehlen.