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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

179-180

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tiwald, Markus

Titel/Untertitel:

Die Logienquelle. Text, Kontext, Theologie.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2016. 208 S. m. 5 Abb. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783170256279.

Rezensent:

Michael Labahn

Das mit dem schlichten Titel »Die Logienquelle« überschriebene Studienbuch von Markus Tiwald beschäftigt sich mit der nach Ausweis der Zweiquellentheorie zweiten schriftlichen Quelle des Matthäus- und des Lukasevangeliums neben dem Markusevangelium. T.s Einführung zu Q, die den Forschungsstand lesbar und übersichtlich präsentiert, tritt einem abnehmenden Forschungsinteresse im letzten Jahrzehnt entgegen. Trotz methodischer Neuansätze, der Zurverfügungstellung grundlegender Arbeitsmittel wie The Critical Edition of Q (2000) sowie regelmäßiger Tagungen mit entsprechenden Tagungsbänden und gewichtigen Einzelstudien hat die Q-Forschung im Widerspruch zu dem von T. bei Udo Schnelle entliehenen Zitat damit aufgehört, dass sie »zu den dynamischsten Bereichen der ntl. Exegese gehört« (11), und verliert an Interesse. Dies mag an der inzwischen verbreiteten Skepsis gegenüber literarkritisch ermittelten Quellen und der gleichzeitigen Wertschätzung textorientierter und textvergleichender Arbeitsmethoden liegen, wiewohl einzelne Studien beide Ansätze vereinen (z. B. Bork, Roth).
T.s Einleitung in die Zweiquellentheorie führt in den Text der Logienquelle, den sozialen, kultur- und religionsgeschichtlichen Rahmen sowie in die theologischen und christologischen Themen von Q ein. Sie füllt damit ein großes Desiderat in der deutschsprachigen Forschung und Lehre. Zugleich ist sie wie die kurze englischsprachige Einführung zu Q von John Kloppenborg (Q, the Earliest Gospel, 2008) als eigener Forschungsbeitrag zu bewerten. Beispielsweise sind die Auswertung der »secondary orality« zur Er­klärung der »minor agreements« (20) oder die Anerkennung eines »narrativen plots« weiterführende Ansätze zum Verstehen von Q.
Didaktisch übersichtlich werden die wesentlichen Fragestellungen diskutiert, wobei im ersten Abschnitt die gegenwärtige Kritik an der Zweiquellentheorie durch die Behauptung marginalisiert wird, dass »heute so gut wie alle seriösen Bibelwissenschaftler« mit ihr arbeiten (17). Auch wenn wissenschaftliche Plausibilität und Akzeptanz ein Kriterium der Ergebnissicherung sind, so überdeckt solche Rhetorik durchaus bestehenden Diskussionsbedarf; so im Falle der so genannten »minor agreements«, die nur in »einigen wenigen (daher minor) Fällen« vorlägen (20). Dies überrascht, zählt doch z. B. Schnelle insgesamt 700 Fälle von kleineren sprachlichen Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus (Einleitung in das Neue Testament, 92017, 214).
Es ist etwas bedauerlich, dass aus lizenzrechtlichen Gründen nicht die verbreitete Übersetzung von Paul Hoffmann und Christoph Heil abgedruckt werden konnte, sondern auf die ältere Übersetzung von Thomas Hieke (BiKi 54 [1999], I–XXIV) zurückgegriffen wird. Möglicherweise ist diese Not eine Tugend, da so kein Text bzw. seine Übersetzung quasi »kanonisiert« wird, sondern ein Signal gesetzt wird, dass Textrekonstruktionen wie ihre jeweiligen Übersetzungen je und je kritisch revidiert werden müssen.
T. bestimmt Q als »Dokument des Frühjudentums«, das die »Heilsexklusivität, mit der die Logienquelle Jesus zeichnet«, als kongruent mit Deutemustern der Tora im zeitgenössischen Judentum versteht (100). Damit werden allerdings Differenzen eingeebnet und der erkennbar schmerzliche Differenzierungsprozess zur jüdischen Mitwelt banalisiert, aus dem Q als Schriftwerk entsteht. So sind die Heiden nicht nur »Negativfolie« in einer »Beschämungsstrategie« (113.114), sondern ausgehend von der lesersteuernden jüdisch-christlichen Perspektive entstehen neue Kommunikationsstrategien. Das »in den frühen 60er Jahren« im galiläischen Raum entstandene »Spruchevangelium« (83.76) wird als ein in Koine-Griechisch durch Dorfschreiber geschriebenes Dokument verstanden, das deutliche Wachstumsspuren zeigt, die jedoch nicht streng literarkritisch auszuwerten, sondern im Rahmen mündlicher Tradierung zu interpretieren sind. Dies spiegelt sich in der Unterscheidung zwischen den für Q verantwortlichen Autoritäten (Wanderradikale) und Autoren (Dorfschreiber) wider, die »die von den Wanderpropheten tradierten logia […] in einen erzählerischen Rahmen (vom Täufer bis hin zum Gericht) mit einem durchgängigen narrativen plot« brachten (129; s. auch 149 f.). Damit wird der Anteil an prophetischem und weisheitlich-schriftgelehrtem Stoff erklärt, der zu verschiedenen Schichtungstheorien Anlass gab. So wird Q als missing link zwischen »einer noch im Frühjudentum befindlichen Gemeinde hin zum späteren Christentum« und »den charismatischen Anfängen der Jesusbewegung zur frühchristlichen Institutsionswerdung« (sic; 144) verstanden. In seiner Darstellung der Christologie und Theologie der Logienquelle versteht T. das Dokument als »eigenständigen Strang des frühen Jesuskerygmas« (167) und als ursprünglichere Äußerung der Jesusnachfolge, die auch Jesu Tod eigenständig als »Zeichen der prophetischen Legitimation« erschließt (162).
T. ist ein anschauliches Porträt der Logienquelle gelungen, das Studierenden wie der Forschung eine geeignete Basis für den weiteren Diskurs über dieses frühe Dokument des Jesusglaubens bietet; eine Diskussion, die T. inzwischen durch seinen Kommentar zu Q selbst bereichert hat. Bei einer Neuauflage wären trotz des umfangreichen Literaturverzeichnisses gezielte Leseempfehlungen zu den einzelnen Abschnitten wünschenswert. Zudem wären gelegentlich mehr Textbeispiele (vorbildlich 118 f.) wie die Auf-listung des jeweiligen Sonderguts von Matthäus und Lukas für die Nutzung als Studienbuch hilfreich.