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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

172-175

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg

Titel/Untertitel:

Qumran, Early Judaism, and New Testament Interpretation. Kleine Schriften III. Ed. by J. N. Cerone.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XXI, 906 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 424. Lw. EUR 214,00. ISBN 9783161560156.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Der dritte Band der »Kleinen Schriften« von Jörg Frey (vgl. zu Bd. I K. Scholtissek, ThLZ 139 [2014], 576–579, zu Bd. II K.-W. Niebuhr, ThLZ 142 [2017], 762) konzentriert sich ganz auf die Funde von Qumran, setzt sie aber durchweg in Beziehung zu den Schriften des Neuen Testaments und zur frühchristlichen Jesus-Bewegung. Damit sind Forschungsgebiete und theologische Interessen des Autors in glücklicher Weise vereint. Wie derzeit kaum ein anderer deutschsprachiger Neutestamentler verbindet F., darin seinem Lehrer Martin Hengel kongenial, hochspezialisierte Quellenforschung, insbesondere mit Blick auf die Qumran-Texte, mit engagierter theologischer Schriftauslegung, hier mit einem Schwerpunkt auf dem Johannesevangelium. Sein Anliegen in der vorliegenden Aufsatzsammlung liegt nicht zuletzt darin, anderen Fachkollegen aus den christlichen Bibelwissenschaften, die selbst n icht so aktiv an der Qumran-Forschung beteiligt sind, deren aktuellen Stand zu vermitteln. Das ist ein durchaus hilfreiches Unternehmen, denn gegenüber der »ersten Welle« der Qumran-Begeisterung nach der Entdeckung der Höhlen vor gut 70 und einer »zweiten Welle« um die vollständige Veröffentlichung aller Texte vor rund 30 Jahren hat sich der Erkenntnisstand ihrer Erforschung inzwischen an zentralen Punkten wesentlich verändert. Wer in der akademischen Lehre die Qumran-Texte heute angemessen berücksichtigen will, und das muss jeder, der den biblischen Texten ge­recht werden will, kann vor diesen Veränderungen des Gesamtbildes von »Qumran« nicht länger die Augen verschließen. Lieb ge­wordene Vorstellungen wie die von einer »Essener-Sekte« am Toten Meer oder dem »messianischen Lehrer der Gerechtigkeit« sind heute genauso überholt wie das Bild von der »Sektenregel« (1QS) oder der »Damaskus-Schrift« (CD) als literarisch einheitlichen Werken (eine Einführung auf aktuellem Forschungsstand bietet Daniel Stökl Ben Ezra, Qumran, UTB 4681, Tübingen 2016).
Hinter solchen Veränderungen des Gesamtbildes von »Qumran« stehen Einzelforschungen aus der Gilde der »Qumran-Forscher«, die heute international, religiös-plural und interdisziplinär aufgestellt ist. Deutsche Bibelwissenschaftler, christliche Theologen zumal, sind in ihr in deutlich geringerer Zahl vertreten als in den ersten Jahrzehnten der Qumran-Forschung. Judaistik, Hebraistik und Aramaistik sowie Paläographie und Archäologie nehmen zentrale Plätze ein. Forscher aus Israel und dem englischsprachigen Raum bilden die klare Mehrheit (im Unterschied zu früher gibt es nur noch wenige aus dem französisch-sprachigen). Forschungs- und Publikationssprache ist durchweg Englisch. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn F. aus der großen Zahl seiner einschlägigen Publikationen eine Auswahl von insgesamt 24 Studien vorgenommen hat, die nunmehr komplett auf Englisch dargeboten werden (zehn ursprünglich auf Deutsch publizierte Arbeiten wurden dazu von Jacob N. Cerone übersetzt). Die Aufsätze sind inhaltlich weitgehend unverändert (Ausnahme: der Beitrag zu den antiken Essener-Berichten aus dem Jahr 1998); lediglich Hinweise auf eigene aktuellere Publikationen und Querverweise innerhalb des vorliegenden Bandes wurden nachgetragen.
Vorangestellt sind eine kurze, eher autobiographische Übersicht über die folgenden Aufsätze (der einzige unveröffentlichte Beitrag) sowie, thematisch gewichtiger, zwei Überblicksartikel, die in den Gesamtbefund der Quellen sowie in methodische Probleme der Qumran-Forschung und Grundzüge ihrer Geschichte einführen. Es folgen je elf Studien unter den Rubriken »Qumran and Early Jewish Texts« sowie »Qumran, the New Testament, and New Testament Scholarship«, wobei die Eingruppierung keineswegs trennscharf ist. Im Gegenteil: Es gehört zu den fast in jedem Aufsatz betonten Einsichten F.s, dass die Qumran-Texte nur im Kontext des vorrabbinischen Frühjudentums (einschließlich der neutestamentlichen Schriften) angemessen verstehbar sind, wie umgekehrt das Neue Testament und die Jesus-Bewegung allein im Zusammenhang mit dem Frühjudentum insgesamt (einschließlich der Texte aus Qumran) historisch nachvollziehbar erklärt werden können. Darauf deutet schon der Befund der in Qumran ge-fundenen mehr als 900 Handschriften (viele davon freilich extrem fragmentarisch), die sich nur zum kleineren Teil der eigenen literarischen Produktion der dort ansässigen Gruppe, des so genannten jachad, verdanken, zum weitaus größeren aus biblischen Schriften sowie anderweitig und früher entstandenen Werken der frühjüdischen Literatur bestehen, die entweder schon länger be­kannt waren, wenn auch bisweilen nur zum Teil oder in anderer literarischer Gestalt, oder im Rahmen der Qumran-Funde erstmals belegt sind.
Sehr schön zeigt F. immer wieder, wie sich die Positionen und Forschungsinteressen der modernen Wissenschaftler mit den Er­gebnissen ihrer Rekonstruktion und Interpretation der antik-jüdischen Texte überlagern. Schon die Fund- und mehr noch die Erforschungsgeschichte der Qumran-Texte waren von Anfang an und sind bis heute nicht zu trennen von der Erforschung des antiken Frühjudentums und des entstehenden Christentums in historischer, philologischer, religionsgeschichtlicher und auch theologischer Perspektive. Wer meint, allein historische Forschung könne vor Vor- und Fehlurteilen bewahren, muss sich gerade bei einem kritischen Blick auf die Geschichte der Publikation und Erforschung der Qumran-Funde eines Besseren belehren lassen. Insofern haben wir nach der Leben-Jesu-Forschung, wie sie vor 100 Jahren von Albert Schweitzer kritisch analysiert und damit entlarvt worden war, nun mit Qumran ein zweites Schulbeispiel dafür vor Augen, wie stark auch (oder gerade?) die modern-historische Bibel- und Religionswissenschaft von den Prämissen ihrer Wissenschaftler lebt.
Eine Art Leitgedanke in vielen Aufsätzen ist die Einsicht in die Vielfalt der Befunde. Das betrifft zum einen die literaturgeschichtliche Herkunft der Texte nach Zeit, Ort, Gruppen, religiösen Prägungen, kulturellen Herkunftsregionen, zum anderen die literarkritische Rekonstruktion einzelner Texte, die sich durch verschiedene Versionen derselben Werke, sei es innerhalb oder außerhalb der Qumran-Handschriften, wenigstens ein Stück weit aufklären lässt. So ist inzwischen weitgehend akzeptiert, dass sich hinter der »Sektenregel« (1QS), einer der prominentesten Qumran-Schriften, ein Sammelwerk von »Regeln« und Texten anderer Gattung verbirgt, die sicher nicht alle erst im jachad entstanden sind und schwerlich komplett dort in Geltung gestanden haben können. Ebenso ist klargeworden, dass die in der Kairoer Geniza gefundene Fassung der »Damaskus-Schrift« eine sicher erst nachqumranisch entstandene Epitome eines durch die Qumran-Funde belegten erheblich umfangreicheren Werkes darstellt. Die verschiedenen Handschriften mit aramäischen Henoch-Texten verschieben nicht nur die Datierung von Teilen des spätantiken Äthiopischen He­nochbuches weit nach vorn, sondern belegen religionsgeschichtlich auch einen Zweig der frühjüdischen Weisheitsüberlieferung, der nicht scharf von apokalyptischen oder auf die Tora bezogenen Traditionsschichten abgegrenzt werden kann. Besonderes Gewicht kommt in den Arbeiten von F. den vorher ganz un­bekannten Weisheitstexten aus Qumran zu, die bisher in der Qumran-Forschung noch relativ wenig aufgearbeitet sind. Auch sie belegen die im Frühjudentum offenbar viel stärker zu gewichtende »Traditionsmischung« zwischen Weisheit, Apokalyptik, Ethik und Tora.
Der Bezug der Texte und auch der archäologischen Funde zu den spezifischen Eigenheiten des jachad und, damit verbunden, die Frage, ob und in welcher Weise dieser mit den in antiken Quellen bezeugten Essenern in Verbindung steht, nimmt in den Untersuchungen von F. ebenfalls erheblichen Raum ein. Hier bleibt er insgesamt sehr vorsichtig, mit zunehmender Tendenz, d. h., er wird immer zurückhaltender in der Bezeichnung der jachad-Gruppe als Essener, hält aber eine gewisse Nähe zu diesen nach wie vor für die am ehesten begründbare Annahme. Auch hier muss freilich noch einmal differenziert werden zwischen der konkret auch archäologisch nachweisbaren Gruppe in unmittelbarer Nähe zu den Höhlen von Qumran und einer weiterreichenden Bewegung des jachad, die sich möglicherweise in den antiken Essenerberichten, wenn auch recht unscharf, spiegelt.
Schließlich stellt F. immer wieder die Frage nach Beziehungen zwischen den Qumran-Funden und der entstehenden vor- und nachösterlichen Jesus-Bewegung und ihren Schriften. Dazu hat er einige im vorliegenden Band wieder abgedruckte Spezialstudien vorgelegt. Insgesamt bleibt er auch hier sehr vorsichtig, lehnt un­mittelbare personale ebenso wie direkte literarische Verbindungen ab und urteilt auch hinsichtlich traditionsgeschichtlicher Bezüge eher zurückhaltend bis scharf ablehnend (etwa im Blick auf den so genannten »johanneischen Dualismus«). Damit will er aber gerade nicht die Bedeutung der Qumran-Funde für das Neue Testament in Abrede stellen oder auch nur reduzieren. Ganz im Gegenteil: Erst im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Frühjudentum insgesamt, für das die Qumran-Texte einen entscheidenden Erkenntnisfortschritt bringen, wird deren Bedeutung für das Verständnis des Neuen Testaments in vollem Umfang sichtbar. So wie Qumran nur im Kontext des vorrabbinischen palästinischen Judentums erforscht und verstanden werden kann, so kann auch das Neue Testament in seiner Eigenart erst dann ausreichend wahrgenommen und interpretiert werden, wenn seine ursprünglichen Zusammenhänge im Frühjudentum sachgemäß gewürdigt werden. Dazu tragen die Texte aus Qumran ganz maßgeblich bei. Sie wissenschaftlich zu erschließen gehört deshalb zu den vornehmsten Aufgaben von Neutestamentlern heute. F. hat sie in ganz hervorragender Weise in Angriff genommen.