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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

156-159

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Petitfils, James

Titel/Untertitel:

Mos Christianorum. The Roman Discourse of Exemplarity and the Jewish and Christian Language of Leadership.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XVIII, 290 S. = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 99. Kart. EUR 84,00. ISBN 9783161539046.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Die Frage nach geeigneten moralischen Vorbildern, nach vorbildhaften Paradigmen, die in exempla literarisch konstruiert und memoriert werden, bildet einen vielfältigen antiken, vor allem römischen Diskursrahmen ab. Dass und wie dieser Diskurs vom Konzept der leadership (die Begriffe leader und leadership sind nur schwer, besser gar nicht ins Deutsche zu übersetzen!) in seiner so-zialethischen Bedeutung her beleuchtet werden kann, zeigt James Petitfils in der vorliegenden Monographie. In Bearbeitung seiner 2013 an der University of California, Los Angeles, eingereichten PhD-Dissertation zielt P.s Studie darauf, das römische Diskursfeld der exemplarity mit seiner Vorgeschichte in der griechisch-hellenistischen Literatur und in seinem Fortwirken auf die entstehende christliche Literatur darzustellen.
Die Monographie besteht aus sieben Kapiteln: Im ersten Kapitel (1–16) bietet P. eine kurze Einführung in seine Frage- und Themenstellung und einen knappen Überblick zur Forschung über »Roman Exempla and Exemplarity Leadership«, die in Grundzügen von Hildegard Kornhardts Untersuchung zum exemplum-Begriff (1936) bis zu Matthew Rollers Aufsatz über »Exemplarity« (2004) reicht (4–7) – insbesondere an Rollers Ansatz, der exempla als Werkzeuge von »moral formation and socialization in Roman culture« ausgewertet hatte (so P. selbst, 5), knüpft P. selbst an (s. u.).
Die Art, wie römische Schriftsteller exempla »as rhetorical vehicles of the mos maiorum« verwenden (1), versteht P. als einen »moral dialogue« (ebd.). Daraus ergibt sich die Frage, wie die »members of non-Roman ethnic groups and voluntary associations throughout the empire« ihre Gemeinschaften organisierten, ihre Kinder sozialisierten und ihre »leader« auszeichneten (1 f.). Gerade weil der literarische Diskurs kompetitiv angelegt war, war es auch frühchristlichen Schriftstellern – so P. – möglich, unter Berücksichtigung der römischen diskursiven Strategien (»discursive practices«) durchaus eine »rather un-Roman, Pauline leadership priority« wie die der »humility« ( ταπεινοφροσύνη) zu propagieren (3). P. geht indes noch einen Schritt weiter und zieht die Linie seiner These wie folgt aus: »… the Roman preoccupation with ancestral models of leadership seems to have fueled the literary development of Christ and Christ-imitating authoritative paragons« (4). Der Darlegung dieser These[n] sind die folgenden fünf Kapitel gewidmet – in Kapitel sieben fasst P. die Ergebnisse seiner Untersuchung als »Conclusions« zusammen (250–252).
Im zweiten Kapitel führt P. in den antiken exemplum-Diskurs ein – und zwar von zwei Seiten her: P. stellt einerseits die Verankerung der παραδείγματα in der griechischen Rhetorik (u. a. Aristoteles und Rhetorica ad Alexandrum) und Schultradition (18–22) und andererseits die römische exempla-Kultur innerhalb der rhetorischen Tradition (u. a. Auctor ad Herennium, Cicero, Quintilian) und darüber hinaus (z. B. Architektur, Geschichtsschreibung) (22–45) dar, um dabei aufzuzeigen, welch erhebliche Rolle die exempla virtutis im alltäglichen Leben der »elites and non-elites alike« (46) spielten. Geradezu als Wesensmerkmal der römischen Kultur identifiziert P. – hierbei an M. Roller anknüpfend – die breitere Bedeutung der exemplarity: Sie reicht über die rhetorische Funktion hinaus und steht im Dienst eines »morality«-Diskurses, welcher durch vier Komponenten (»cultural phenomena«) konstituiert wird: »actions …, audiences …, commemoration …, imitation« (30). Diese vier Komponenten bilden gleichsam die Eckpfeiler, innerhalb derer »individuals and communities in the Roman Empire advertized their particular moral ideals – including those ideals associated with leadership« (31).
Im dritten Kapitel seiner Monographie geht P. vom Konzept der exemplarity zu dem der leadership über: Er stellt die »major categories of exemplary leadership in Roman society and culture« vor (47 ff.), die er in den Kapiteln vier bis sechs bei seiner Untersuchung der relevanten frühjüdischen und frühchristlichen Texte und Autoren wiederaufnimmt. Als solche fünf Kategorien, die er zugleich als »general polythetic model of ideal ›Roman‹ leadership« (48) oder als »heuristic outline of the Roman idiom of exemplary leadership« (85) v ersteht, das die damit verbundene »moral freight« (49) spiegelt, identifiziert P. auf der Basis seiner Quellenlektüre (mit meinen Übersetzungsvorschlägen): 1. »noble lineage« (= edle Herkunft), 2. »courage and martial prowess« (= Mut und Tapferkeit), 3. »educa-tion and eloquence« (= Erziehung und Redegewandtheit), 4. »personal frugality and generous patronage« (= eigene Genügsamkeit und großzügige Gönnerschaft) und 5. »piety towards the Gods« (= Gottesfurcht). Die Bedeutung dieser Kriterien jenseits ihrer rhetorischen und pädagogischen Funktion, nämlich für die Konstruktion von exemplary leadership, wie sie sich in den biographischen Schriften bei C. Nepos und Plutarch, in den laudationes sowie – in eher theoretischer Reflexion bzw. mit instruktiver Absicht – bei Cicero (de officiis) zeigt, betrachtet P. anschließend (72–85). Bei dieser Betrachtung wird auch deutlich, dass die genannten fünf Kategorien nicht de-finit waren, sondern immer auch Gegenstand von Diskussion und s o ein »enduring room for contestation on the topic« (86) blieben. Genau hier setzen die Beobachtungen zu den frühjüdischen und frühchristlichen Adaptionen (Kapitel vier bis sechs) des exemplary leadership-Diskurses in den Literaturen des 1. und 2. Jh.s an.
Im vierten Kapitel (87–140) untersucht P. nämlich, wie die prominenten jüdischen Autoren des 1. Jh.s – Philo und Josephus – den exemplary leadership-Diskurs und dessen römische Prägung adaptiert haben. Dabei spielt auch die jeweilige Haltung der beiden Autoren zur römischen Kultur und Politik eine Rolle (89–98) – insgesamt scheint Philo weniger stark von den »Roman leadership values« (138) geprägt zu sein, als es bei Josephus zu beobachten ist (vgl. auch 139). P. untersucht, wie Josephus (Ant 2–4) einerseits und Philo (Mos 1–2) andererseits die »exemplary leadership« des Mose konfigurieren und dabei die oben genannten fünf Kriterien zur Anwendung bringen. P. stellt dabei heraus, wie beide Autoren »a higher view of Moses than the biblical authors« (134) zum Ausdruck bringen und »equally eager … Moses as a flawless exemplum of effective leadership« zeichnen (135). Während Mose bei Philo jedoch als »exemplum of Hebrew leadership« erscheint (119), ist Josephus deutlich mehr daran interes-siert, »Moses’ nobility« als eine »direct consequence of his honorable bloodline« zu verstehen (100). P. betrachtet die beiden frühjüdischen Autoren in ihrem Umgang mit dem »Roman exemplary discourse« und ihrer Gewichtung der »ancestral tradition« (135) im Vergleich mit dem zeitgenössischen römischen Autor Valerius Maximus (135 ff.). Bei diesem Vergleich wird u. a. deutlich, dass Philo und Josephus stärker als in der römischen Tradition üblich der Frömmigkeit (»piety«) des Mose Gewicht beimessen (139).
Im fünften Kapitel wendet sich P. mit seiner Untersuchung von 1Clem nun den frühchristlichen Texten zu (141–199). Nach Bearbeitung der klassischen Einleitungsfragen nimmt P. die in 1Clem verwendeten exempla in den Blick (150 ff.) – 1Clem verwendet in-dividuelle exempla und »exempla-lists« (151 – mit Textangaben). Unter den ca. 32 aus der LXX bekannten »figures or groups« kommt Mose, Abraham, David und Christus eine besondere Bedeutung zu. Anschließend prüft P., wieweit die exempla des 1Clem die römischen »leadership ideals« repräsentieren (154 ff.). Dabei zeigt sich: Zu den fünf aus dem römischen Diskurs genannten Prinzipien bleibt der Verfasser des 1Clem – mit Ausnahme der Hochschätzung der »Agonistic Endurance« (ὑπομονή, 159 ff.) – eher in kritischer Distanz: Das betrifft insbesondere »noble birth«, »eloquence« und »patronage«. Dagegen misst 1Clem der ἀγάπη und der ταπεινοφροσύνη, die dem Diskursrahmen der »piety« zugeordnet werden können (164 ff.), als »leadership virtues« (198) eine eigenständige Bedeutung bei (170 ff.): Besonders bei der ταπεινοφροσύνη werden die Verknüpfungen mit der paulinischen Tradition (»Pauline Preservation«, 196), die hier konträr zu den hellenistisch-römischen Wertvorstellungen stehen, wie P. in einem ausführlichen Exkurs zur ταπεινο-Wortgruppe zeigt (182–196), und damit auch das »Proprium« der frühchristlichen leadership-Vorstellung greifbar. Im Ergebnis ähnlich fällt die Untersuchung des »Letter of the Churches of Vienne and Lyons« aus, die P. im sechsten Kapitel seiner Monographie vorstellt (200–249), auch wenn dieser Text tenden-ziell unvoreingenommener und positiver als 1Clem etwa der »elo-quence« und »patronage« als leadership values gegenübersteht.
Die Monographie ist insgesamt klar und ohne Umschweife geschrieben. Kritisch anzufragen bleibt, wie P. seine Quellentextauswahl vorgenommen hat – das betrifft die römischen, frühjüdischen und frühchristlichen Texte. Eine eigenständige Begründung der Textauswahl wird nicht vorgenommen: Warum wählt P. aus dem Bereich der frühchristlichen Literatur 1Clem – warum nicht die Paulusbriefe selbst (authentische oder pseudepigraphe) oder den Jak? Auch hätte bei der Untersuchung der frühchristlichen Texte, die P. – zu Recht – als Fortwirkung paulinischer Traditionen begreift, die Frage, wieweit die Brieflichkeit als Genremerkmal hier den leadership-Diskurs mitprägt, bedacht werden können. Ärgerlich ist, wie wenig deutschsprachige Literatur P. offenbar konsultiert hat. Formal betrachtet überzeugt die Monographie. Die Indizes sind – mit Ausnahme des zu knappen Sachindexes – hilfreich und informativ. Insgesamt hat P. eine anregende und für den Diskurs über antike Konzepte von leadership und exemplarity im Spannungsfeld von rhetorisch-literarischer Gestaltung und ethischer Profilierung fortan grundlegende Studie vorgelegt.