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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

147-149

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Harrison, James R., and L. L. Welborn [Eds.]

Titel/Untertitel:

First UrbanChurches 5: Colossae, Hierapolis, and Laodicea.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature Press 2019. XXI, 457 S. = Writings from the Greco-Roman World Supplements, 16. Kart. US$ 60,00. ISBN 9781628372618.

Rezensent:

Joel White

Die Herausgeber der Reihe The First Urban Churches haben schon wichtige Sammelbände über Korinth, Ephesus und Philippi ver-öffentlicht. Nun folgt ein Band über die für das Neue Testament wichtigen Städte im Lykostal in Zentralanatolien. In einem einleitenden Kapitel (Perspectives on the Lycus Valley: An Inscriptional, Archaeological, Numismatic and Iconographic Approach) bieten A. H. Cadwallader und J. R. Harrison einen Überblick über das reiche Angebot an außerliterarischen Quellen in der Region. Darin werden die bisherigen Inschriften, die Kolossä erwähnen, zusammengefasst und neu hinzugekommene näher untersucht. Die Beweislage reiche nun dem nachvollziehbaren Urteil Cadwalladers zufolge (11–12) aus, um die lange in der Forschung vertretene These, dass Kolossä sich nach einem Erdbeben 60 n. Chr. nie wieder erholt hätte, endgültig zu begraben.
Der erste Teil beginnt mit einem kurzen Beitrag von U. Huttner (Colossians, Hierapolitan Coins – and the Young Bearers of Hope). Danach setzten sich drei Autoren (unterschiedlich konsequent) mit dessen wichtiger Monographie Early Christianity in the Lycus Valley, die 2013 bei Brill erschien, auseinander. R. Canavan fasst viele Informationen aus ihrer Dissertation über Kleidungsmetaphorik im Kolosserbrief zusammen und führt diese Gedanken weiter in einem Kapitel (Unraveling the Threads of Identity: Cloth and Clothing in the Lycus Valley), das anhand von Beobachtungen zur regional bedeutsamen Kleiderherstellungsindustrie den Prozess der »identity formation« unter den Jesus-Anhängern in Kolossä untersucht. Eine methodische bzw. hermeneutische Frage drängt sich dabei auf: Welchen Zugang hatte der Autor des Kolosserbrie-fes – egal, ob Paulus oder ein pseudepigraphischer Schreiber – zu solch detaillierten Informationen? Aufgrund seines ausführlichen Vergleiches archäologischer und insbesondere numismatischer Quellen aus Kolossä und der Umgebung stellt Cadwallader (On the Question of Comparative Method in Historical Research: Colossae and Chonai in Larger Frame) die Frage nach einer jüdischen Präsenz in der Stadt neu zur Diskussion. Falls er recht hat (und selbst er gibt zu, dass die Beweislage dünn ausfällt), würde diese Einsicht die These stärken, dass die zumindest stark von judaisierenden Anliegen behaftete »kolossische Irrlehre« auf die Gemeinde von außen einwirkte und nicht von innen aufkam. H. O. Maier (Salience Multiple Affiliation, and Christ Belief in the Lycus Valley) setzt sich am direktesten mit Huttner auseinander und würdigt seinen Beitrag in angemessener Weise. Er beklagt aber zum einen die mangelnde Berücksichtigung des »spatial turn«, die Raum nicht nur als geographische Dimension, sondern als soziales Konstrukt erfasst, und zum anderen Huttners zahlreiche aus der Sicht einer späteren christlichen Orthodoxie normativen Urteile über das religiöse Um­feld in Kolossä.
Es folgen in einem dritten Teil sieben Aufsätze zu unterschiedlichen einschlägigen Themen. C. E. Arnold (Initiation, Vision, and Spiritual Power: The Hellenistic Dimensions of the Problem in Colossae) verteidigt seine einflussreiche, aber neuerlich vielerorts hinterfragte These einer synkretistischen Zusammensetzung der kolossischen Irrlehre. Insbesondere setzt er sich energisch für seine von F. Francis kritisierte Deutung des Lexems ἐμβατεύω in Kol 2,18 als t. t. der Mysterien in Klaros ein. Nicht jeder wird Arnold bescheinigen, Francis’ Kritik entkräftet zu haben, aber seine Identifizierung eines judenchristlichen Anführers mit einem Hang zur Magie hinter der kolossischen Irrlehre, etwa nach dem Vorbild Skevas in Apg 19,11–17, ist trotzdem erwägenswert. P. Arzt-Grabner (Everyday Life in a Roman Town Like Colossae: The Papyrological Evidence) untersucht die Papyri im Hinblick auf zwei für Kolossä wichtige Themen – die antike Sklaverei und die Weberei – und malt aufgrund der daraus gewonnenen Einsichten ein spannendes Bild des alltäglichen Lebens in Städten wie Kolossä. Inwiefern sich papyrologische Funde aus Syrien und Afrika dafür gebrauchen lassen, müsste jedoch gründlicher reflektiert werden. A. Standhartinger (A City with a Message: Colossae and Colossians) fragt in ihrem Beitrag danach, wie das besondere Profil der Stadt Kolossä die Botschaft des ihrer Meinung nach pseudepigraphischen Kolosserbriefes beeinflusse. Fast nebenbei bietet sie zwei überholte Argumente für die Annahme, dass der Brief kein Schreiben des Paulus sein könne: 1) die im deutschen Sprachraum – trotz neuerer und methodisch stringenterer Untersuchungen von B. White, J. van Nes u. a. – immer noch einflussreiche stilometrische Studie von W. Bujard aus dem Jahr 1973 und 2) Lindemanns nur auf der Basis eines durch das Erdbeben ausgelöschten Kolossäs (siehe dazu oben) erwägenswerte These, dass ein pseudepigraphisches Schreiben an eine unbe-deutende Stadt, die Paulus nie besuchte, nicht verifiziert werden konnte.
Die ausführliche Untersuchung einschlägiger Münzen in und um Laodizäa von M. Theophilos (Employing Numismatic Evidence in Discussions of Early Christianity in the Lycus Valley: A Case Study from Laodicea) führt ihn zu dem Schluss, dass die wohlhabende Stadt energisch um die Gunst Roms warb und den Kaiserkult neben Kulten zu Ehren einer bunten Vielfalt an antiken Göttinnen und Göttern betrieb. M. Trainor (Rome’s Market Economy in the Lycus Valley: Soundings from Laodicea and Colossae) beschreibt in beeindruckendem Detail das wirtschaftliche Leben in Laodizäa und Kolossä. Seine facettenreiche Analyse des römischen domus wirkt der Tendenz entgegen, »Jesus households« als rein geistliche Ge­meinschaften zu betrachten und ihre Rolle als wirtschaftlich be­deutende Kleinfabriken zu vernachlässigen. A. Brent erwägt in seinem Beitrag (Has the Vita Abercii Misled Epigraphists in the Reconstruction of the Inscription?), inwiefern die Märtyrerlegende von Aberkios aus dem 4. Jh. die Deutung der 1882 von W. Ramsay entdeckten Aberkiosinschrift aus dem 3. Jh. beeinflusst und zu einer falschen Einschätzung ihres Sitzes im Leben geführt hat. Schließlich untersucht Harrison (The Inscriptions and Oracular Prophecy in the Eastern Mediterranean Basin: Assessing the Book of Revelation in Its Graeco-Roman Revelatory Context) die Wiederbelebung der Orakelprophetie in Didymus und Klaros während der zweiten Sophistik. In der Johannesapokalypse sei Harrison zufolge die Antipathie der Orakelprophetie gegen christliche Gemeinden in der Region zu spüren, weil das Phänomen der Gemeindeprophetie das elitäre und statusbewusste Orakelwesen implizit in Frage gestellt habe.
Die Vielfalt an Autoren und Themen, die Sammelbände umfassen, macht es oft schwer, von ihnen ein Gesamtbild zu malen. Der hier betrachtete zeichnet sich aufgrund der Beteiligung ausgewiesener Experten in verschiedenen Disziplinen durch hohe Qualität und aufgrund ihrer regionalen Fokussierung durch offenkundige Kontinuität aus. Neben sachkundiger und scharfsinniger Analyse verschiedener Aspekte des Lebens in den Städten des Lykostals sind die geradezu erschöpfenden bibliographischen Angaben ein großer Schatz für Neutestamentler, die den sich gegenseitig bedingenden Zusammenhang zwischen dem profanen Alltag und der Gestalt des geistlichen Lebens unter Jesus-Anhängern dort verstehen wollen. Zu bemängeln ist, dass die Autoren (mit Ausnahme von Canavan) auf Bildmaterial verzichten. Das macht die ausführliche Beschreibung von Münzen und Inschriften unnötig mühsam. Sie neigen auch dazu, Fachbegriffe aus ihren jeweiligen Disziplinen ohne Erklärung zu gebrauchen, und verlieren dabei ein Ziel der Reihe aus den Augen: die Ergebnisse der neueren Forschung aus diesen Gebieten für Nichtspezialisten zugänglich zu machen. Das sind aber Schönheitsfehler, die die Wichtigkeit dieses Kompendiums für die Auslegung der neutestamentlichen Briefe an die Kolosser, Philemon und die Laodizäer keineswegs verringern.