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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

97–99

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Heiko

Titel/Untertitel:

Der Teufel im Gesangbuch. Eine hymnologisch-satanologische Studie über das Evangelische Gesangbuch und ausgewählte Lieder.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2019. 613 S. = Mainzer Hymnologische Studien, 29. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783772086915.

Rezensent:

Bernhard Lauxmann

Heiko Herrmanns liturgisch-hymnologische Studie entstand als Promotionsschrift an der Universität Leipzig bei A. Deeg. Sie gibt sich als Beitrag zu einer Satanologie in praktisch-theologischer Verantwortung zu verstehen, die sich als Quelle des Textfundus des Evangelischen Gesangbuches (EG) bedient. Sie wurde von verschiedenen Kirchen bezuschusst und vor Drucklegung überarbeitet.
Die Studie ist »das Werk eines Praktischen Theologen« (15), der sich selbst im Feld der Theolinguistik verortet und A. Greule als seinen Mentor bezeichnet (51). Dass die Arbeit konsequent auf Text und Wortlaut der Lieder fokussiert und die Frage nach Melodie und gelebter Singpraxis ausblendet (44), ist insofern konsequent. Als Vertreter einer radikal wortbezogenen Theologie geht H. von einem »für den Kirchengesang (!) notwendigen dogmatischen Primat des Textes« (45) aus. Popkulturelle Darstellungen des Teufels (z. B. in Pop- oder Rocksongs) oder empirische Fundierungen (z. B. zur Rezeption der EG-Lieder) spielen in der Studie keine Rolle. H. zeigt ein Faible für die lutherische Orthodoxie: Er hält die traditionelle lutherische Satanologie für einen bis heute unerreichten Beitrag (16), spricht von der »theologischen Größe und Genialität Luthers« (163), berichtet von P. Gerhardts vervollkommneter Bildung (181) und nennt dessen Kantor »kongenial« (175). Er bemüht sich, alle Bezugsgrößen als schrift- und bekenntnisgemäß auszuweisen (vgl. 518.543 u. ö.), auch seine Gewährsleute (M. Luther, P. Gerhardt, K. Barth, M. Josuttis u. a). Er ist überzeugt, dass »unorthodoxe Texte gar nicht erst in den Forschungsbereich gelangen konnten« (520). M. Luther argumentiere für ihn »ganz am biblischen Text« (152). Die Würdigung von M. Josuttis basiert zusätzlich auf der Einschätzung, dass dieser die »anschlussfähigste praktisch-theologische Theorie vorgelegt [habe], die sich dem Phänomen […] böser Mächte widmet« (533). Der Hinweis auf die enorme Texttreue bei Gesangbuchrevisionen (92 f.125.455.515 f. u. ö.) konvergiert mit e inem ehrfürchtigen Ton (»Respekt gegenüber den alten Gesangbuchautoritäten«, 91). Auffällig ist auch die harsche Abrechnung mit F. D. E. Schleiermacher und R. Bultmann (»Professores, Sie ha­ben geirrt […]!«, 20; vgl. 543 u. ö.), denen ein »Angriff auf die tra-ditionelle Lehre« (19) unterstellt wird, sowie die Kritik am Beitrag der Aufklärungstheologie und an aller nachaufklärerischen Theo-logie, die nicht vertieft nach dem Wort Gottes frage (90 f.267 f.516). All dies deutet auf eine lutherisch-(neo)orthodoxe Verortung H.s hin.
H.s Studie hat einen klaren Aufbau: Im 1. Kapitel (A) werden Forschungsinteresse, Gegenstand und Vorgehen plausibilisiert (13–103). Das 2. Kapitel (B) widmet sich dem Liedgut M. Luthers (107–167) und P. Gerhardts (169–259). Im 3., liturgisch akzentuierten Kapitel (C) werden die satanologischen Befunde, nach einzelnen Abschnitten des EG gegliedert, dargestellt. H. widmet sich dem Weihnachtsfestkreis (EG 1–71; 263–306), dem Osterfestkreis (EG 75–137; 307–362), den Bitt-, Lob- und Trostgesängen (EG 316–420; 363–442) sowie den Tageslaufliedern (EG 437–493; 443–512). Wider Er­warten werden die Tauflieder (EG 200–212), die etwa das Motiv der abrenuntiatio diaboli aufgreifen (vgl. EG 200), nicht extra be­handelt. In der Bündelung (D) erfolgt eine Gesamtbetrachtung der Rede vom Teufel im EG. Zudem werden Konsequenzen für die kirchliche Praxis gezogen.
Der Leseeindruck lässt folgende Herangehensweise vermuten: Aus der von H. geteilten Überzeugung M. Luthers, wonach »die theologisch entscheidende Dimension im Text liegt« (114), resultiert der strenge Fokus auf den Text des EG, das von H. als kanonisch, bibelkonform und bekenntnisgemäß vorgestellt wird (543 f.). Die Liedtexte bilden sodann den materialdogmatischen Ausgangspunkt für den hermeneutischen Versuch, einzelne »orthodoxe« Lehraussagen zur Satanologie aus dem EG zu destillieren, um mit diesen »Ergebnissen« das eigene Anliegen einer »milde[n] Form eines evangelischen Exorzismus« (554) abzusichern. Anders gesagt: H. untersucht den Teufel im Gesangbuch, weil er beabsichtigt, »Ge­danken zu einer milden Form eines evangelischen Exorzismus […] anzuregen« (543) und dieses Anliegen als orthodox ausweisen will.
Sieht man von Passagen ab, in denen deskriptive Befunde und normative Kommentare nicht genau genug unterschieden werden (z. B. »Gottes Nähe bringt teuflische Anfechtungen«, 154), sind die Überlegungen in Teil B zu Teufelsvorstellungen im Liedgut in­struktiv. Die Differenzierung nach Gesangbuchrubriken in Teil C ist weniger ertragreich, zumal sich die jeweils erhobenen Teufelsvorstellungen kaum unterscheiden: Da wie dort geht es – trotz H.s Interesse am singulären, personalen (!) Bösen – um ein diffuses In­einander mehrerer Interpretanten, häufiger aus drei oder vier Elementen. H. spricht von einer »Polyphonie (Kakophonie) des Bösen« (232) bzw. einem »dämonische[n] Netz« (291), von der »un­heilige[n] Trinität« (495) bzw. vom »Triumvirat von Sünde, Tod und Teufel« (164; vgl. 523) oder vom »dämonische[n] Viergestirn des Todes« (164) bzw. dem »unheiligen Quadrumvirat der Verderbensmächte« (165). Gegen solch diffuse, teuflische Mächte werde – so der Kernbefund H.s – gemeinschaftlich im Vertrauen auf Gottes Wort angesungen, ohne den Teufel in der Regel selbst zu adressieren. In diesem Akt, als Wortgeschehen gedeutet, realisiere sich die exorzistische Dimension der EG-Liedtexte.
Wenn aber »die Begriffe auf der Textebene häufig miteinander verschwimmen« (294) und zwischen den Rubriken kaum Unterschiede in der Teufelsvorstellung auszumachen sind, so dass H. Re-dundanzen geradezu entschuldigt (473; vgl. 495), so weist dies doch auf eine Schwäche der Arbeit hin. Vielleicht wäre es klug gewesen, die Studie in Teil C anders zu strukturieren oder größere Klarheit durch geeignete Methoden zu erreichen. Bei Begriffsstudien läge es nicht fern, sich z. B. der »semantischen Analyse« zu bedienen, um solche Wortreihen zu decodieren oder als »semantisches Reimen« (Engemann) zu entlarven. Dass in der Gesamtbetrachtung vielfach auf Argumente verzichtet wird und dogmatische Zusammenhänge be­hauptet werden (»[W]er sich nicht zur Christusbotschaft hält, ist ohnehin dem Teufel verfallen«, 524), ist schade.
Die von H. im methodischen Teil in Kauf genommenen blinden Flecken dürften manch vorschnelle Schlüsse erklären. Häufiger werden Erfahrungen aus dem 16./17. Jh. unkritisch auf die Gegenwart übertragen. Dies ist z. B. der Fall, wenn H. aus einem Befund zu P. Gerhardts Kompositionsabsicht folgert, dass »problemlos auch heutige Rezipienten diese persönliche Aneignung der Heilsgeschichte vollziehen können« (226; vgl. 227). Hier zeigen sich die Gefahren der allzu dogmatischen Sicht auf die Liedtexte, die empirische Gegenwartsanalysen bewusst ausblendet.
Wer sich über den Teufel im EG informieren will, wird künftig gewiss keinen Weg an H.s Dissertation vorbei nehmen können. Die Arbeit hat eine Lücke geschlossen und darf als erste umfangreichere Studie zum Thema gelten. Dass H. gezeigt hat, dass P. Gerhardts satanologische Dichtung motivisch nicht nur von J. Arndts Paradiesgärtlein, sondern vor allem von L. Hutters Compendium beeinflusst wurde (188–201), ist zu würdigen.
Mich hat H. jedoch von seinem Grundanliegen, die in den Gesangbuchliedern »angelegte exorzistische Dimension auch für gegenwärtige Sänger zugänglich zu machen« (522), nicht überzeugt. Nur weil M. Luther oder P. Gerhardt einst etwas dichteten, legitimiert dies keine Rehabilitation kirchlich-exorzistischer Praxis. Wenn Menschen, angeregt durch diese Studie, künftig tatsächlich in ihrer Sterbestunde empfohlen werden sollte, »gegen Elend und Anfechtung Satans anzusingen« (554), so hätte ich große Be­denken. Ich frage mich: Woher mag die eigentümliche Idee kommen, dass man aus voraufklärerischem Textmaterial und unter bewusster Absehung von der heute gelebten Praxis Handlungsempfehlungen für genau diese Praxis gewinnen kann?