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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

95–97

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dieckmann, Elisabeth, u. Karl-Heinz Wiesemann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Wie viel Kirche braucht das Land? Christliches Zeugnis in einer säkularen Gesellschaft.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2019. 160 S. Kart. EUR 19,90. ISBN 9783429053567.

Rezensent:

Christian Bogislav Burandt

Unter dem herausfordernden Titel »Wie viel Kirche braucht das Land?« haben Elisabeth Dieckmann und Karl-Heinz Wiesemann (katholischer Bischof von Speyer und Vorsitzender der ACK seit 2013) die Referate herausgegeben, die auf einer Tagung in Mainz im Jahr 2018 gehalten worden sind. Die Tagung wurde von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) und der Katholischen Akademie des Bistums Mainz/Erbacher Hof durchgeführt. Die Frage, was der gesellschaftliche Wandel für die Kirchen bedeutet und welche Rolle die Kirchen in der Gesellschaft von morgen spielen können und sollen, geht alle Kirchen an und wurde folgerichtig auf der Tagung in ökumenischer Gemeinschaft diskutiert. Zum Glauben gehört das Tun. Im Tagungsband richtet sich der Blick vor allem auf das diakonische Handeln der Kirchen (10).
Zwölf Autorinnen und Autoren haben einen Beitrag geleistet, im Rahmen dieser Rezension können nur einige näher gewürdigt werden. Andreas Püttmann, »Akzeptanz, Gemeinwohldienste und Versuchungen der Kirche in der säkularisierten Gesellschaft«, be­hauptet, dass die Soziologen das »hiesige Christentum heute als eine ›erkaltete‹ Religion« darstellten. Er stützt sich auf die Untersuchungen von Pollack/Rosta (Religion in der Moderne von 2015) und meint, dass die religiöse Lethargie wesentlich durch kirchenexterne Faktoren verursacht sei, wie gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse, und dass das Handeln der Kirche für ihre Attraktivität eine erstaunlich geringe Rolle spiele. Immerhin habe das Forsa-Institut bei der Vertrauensfrage in die Institutionen zum Jah­reswechsel 2017/18 einen leichten Gewinn für die großen Kirchen verbucht. »Als Zeremonienmeisterin, Moralanstalt, Sozialagentur und Rückzugsort wird die Kirche auch in säkularisierten Gesellschaften wie der deutschen weiterhin geschätzt« (18) – und dies auch bei Agnostikern und Nichtgläubigen. Weder die Selbstsäkularisierung noch die optische Anpassung an die Umwelt sei der Kirche zu raten. Klüger sei es, das geistliche und moralische Proprium zu wahren und »in Würde zu schrumpfen«. Dabei gelte es, nicht einer Wagenburgmentalität zu verfallen. Püttmann fordert, ge­genüber populistischen Versuchungen Ernst zu machen mit der Aussage, dass das Christentum »in die Rolle einer kulturellen Schutzmacht der Aufklärung eingerückt sei« (H. Lübbe), weil »Freiheit ein Zentralwert des Christentums« ist (29). Er betont den Beitrag der Kirche im Hinblick auf Vertrauen und Zusammenhalt der Gesellschaft auch im Blick auf die Achtung von Recht und Gesetz. »Als sozial prägende Kraft bleiben christliche Glaubensüberzeugungen ein politischer Faktor im sich säkularisierenden und re-ligiös pluralisierenden Europa.« Der freiheitlich-demokratische Staat lebt zwar »nicht mehr nach den Weisungen der Kirche, aber immer noch von Früchten ihrer geistlichen Existenz« (35), was freundlich-kooperative Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Kirche als wünschenswert erscheinen lassen.
Karl-Heinz Wiesemann, »Die ›radikale‹ Sendung der Kirche«, be­tont den unlösbaren Zusammenhang von Kirche und Welt. Er hält fest: »Die Kirche hat keine andere Aufgabe, als das Evangelium in Wort und Tat zu verkünden und die Menschen in die Nachfolge Jesu zu rufen.« (41) Aus Sicht der Kirchen brauche auch eine säkulare Gesellschaft die Kirche sowie christlich getragene Krankenhäuser und Einrichtungen. »Denn die Gesellschaft lebt letztlich von der Botschaft der Würde des Menschen, die aus der Liebe Gottes zu ihm folgt.« (42) Veränderungen, die die Kirche betreffen, müssen von ihr als geistlichen Transformationsprozess gestaltet werden. Da christlich gesehen die Verantwortung vor Gott nie losgelöst von der Verantwortung für die Mitmenschen verstanden werden kann, ist es Aufgabe der Kirche, den Zusammenhang von Freiheit und religiöser Bindung zu betonen. »Ohne Gott gibt es keine wirkliche Freiheit.« (44) Individualismus steht »dem gesellschaftlichen und politischen Engagement im Wege« (46), Religion hat demgegenüber die wichtige Aufgabe, Menschen zu verbinden. Ulrich Lilje, »Diakonie im Spannungsfeld von Kirche und Sozialmarkt«, erläutert die aktuelle Loyalitätsrichtlinie der EKD vom 9.12.2016, die dienstrechtlich dadurch offener ausgestaltet sei, dass zwar grundsätzlich die Zugehörigkeit zu einer Kirche der EKD oder einer Kirche, die mit ihr in Kirchengemeinschaft verbunden sei, gefordert werde, aber ansonsten für alle Aufgaben, die nicht zur Verkündigung und Dienststellen-Leitung zählen, auch Personen eingestellt werden können, »die keiner christlichen Kirche angehören«. »In der Diakonie verstehen wir daher die Herausforderungen der wachsenden interkulturellen und interreligiösen Vielfalt als eine Gelegenheit zur Kommunikation des Evangeliums in Wort und Tat.« (90) Er berichtet über den Paradigmenwechsel in der Sozialen Arbeit, der sich mit den Begriffen »Sozialraumorientierung, Personenzentrierung und Selbstbestimmung« verbinde. Diese Herausforderung gelte es sowohl in Kirche als auch in Diakonie aufzugreifen und neue innovative Konzepte zu entwickeln.
Peter Tauber, »Braucht unsere Gesellschaft die Kirchen?«, bejaht diese Frage, weil »in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen« (105) die Kirchen als Akteure gebraucht würden und Aufgaben übernähmen, die von Seiten des Staates nicht erledigt werden könnten. Unter Berufung auf Jürgen Habermas hält er fest, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen dem säkularen Staat, religiösen und nicht religiösen Bürgern gebe, und zitiert zustimmend: »Der liberale Staat muss auch den säkularen Bürgern zumuten, religiöse Mitbürger […] als Teilnehmer an der gemeinsamen Praxis des öffentlichen Vernunftgebrauchs von Staatsbürgern ernst zu nehmen.« (107) Kirche muss immer Partei ergreifen. »Glaube darf nie bequem sein.« (110) »Eine politische Kirche ist gefragt, keine parteipolitische.« (112) Tauber schließt mit einem Zitat von Martin Werlen: »Nehmen wir uns ein Beispiel an den Heiligen. Niemand wurde heiliggesprochen, weil er oder sie sitzen geblieben ist oder der vergangenen Zeit nachgetrauert hat. Heilige stellen sich der Situation, die sie ärgert oder provoziert, suchen darin Gottes Willen und finden die Glut des Glaubens.« (116 f.)
Die anderen Beiträge sind: Christian Fuhrmann, »Aus dem Glauben Gesellschaft gestalten? Ein Beitrag aus der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland«; Georgios Vlantis, »Die konstantinische Wende – und darüber hinaus«; Dorothea Sattler, »Verbundenheit von Glauben und Handeln. Eine Reflexion in ökumenischer Hinsicht«; Magnus Striet, »Glaube und Politik oder: Über das Recht auf individuelle Selbstbestimmung als Gerechtigkeitskriterium«; Markus Iff, »Befreit zu verantwortlichem Dienst – aus dem Glauben Gesellschaft ge­stalten«; Rossitza Dikova-Osthus, »Kirchliche Diakonie der orthodoxen Ge­meinden in Deutschland«; Thomas Lawo, »Perspektiven für den Bereich Religion und Entwicklung in der internationalen Zusammenarbeit«; Martin Robra, »Die Diskussion über die Aufgabe der Kirchen in der Gesellschaft im Ökumenischen Rat der Kirchen«.
Eine ältere Dame zeigte während einer Zugfahrt nach Leipzig auf das Buch und sagte zum Rezensenten: »Ohne [Kirche] geht es nicht!« – Die einzelnen Beiträge zeigen eindrücklich, warum es gute Gründe für die Aussage jener Dame gibt. Sie sind von grundsätzlicher Bedeutung, so dass sich die Lektüre – auch nach Corona! – unbedingt lohnt. Inhaltlich angemessener wäre für das Buch, das Karl Kardinal Lehmann gewidmet ist, allerdings anstelle eines quantitativ klingenden Titels ein qualitativer Titel im Sinne von »Wozu das Land die Kirche braucht«.