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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

93–95

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Fischer, Johannes

Titel/Untertitel:

Präsenz und Faktizität. Über Moral und Religion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. IX, 312 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783161568855.

Rezensent:

Philip Geck

Dieser Aufsatzband des evangelischen Ethikers Johannes Fischer besteht aus zwei Teilen, die unter den Leitbegriffen »Moral« bzw. »Religion« stehen. Den Auftakt zu beiden Teilen bildet jeweils ein schwergewichtiges Kapitel, in dem grundlegende Bestimmungen vorgenommen werden, die den folgenden kürzeren Texten so etwas wie begrifflichen Windschatten geben. Zum Teil handelt es sich um Erstveröffentlichungen, zum Teil um erhebliche Erweiterungen bereits erschienener Texte.
Der Zürcher Emeritus ist ein sehr systematischer Denker. Es zeigen sich deshalb zahlreiche Verbindungen zwischen seiner Moral- und seiner Religionstheorie. Sein grundlegendes Motiv ist das Interesse an einer realistischen Ethik und Theologie. F. will verstehen, wie sich moralische und religiöse Wahrnehmung und Erfahrung im gelebten Leben vollzieht. Sorgfältige Begriffsarbeit und die Orientierung an konkreter Praxis sind bei ihm zwei Seiten einer Medaille. Gerade sein grundlegendes Kapitel zur Moraltheorie kann als Beispiel für eine metaethische Analyse betrachtet werden, wie sie in der deutschsprachigen evangelischen Ethik nicht häufig vorkommt.
F. unternimmt hier auf 75 Seiten eine kleinteilige Analyse mo-ralischer Begriffe. Er will zeigen, dass die Fixierung auf universale Prinzipien, wie sie ethische Diskurse häufig prägen, nicht den Kern moralischer Praxis trifft. Zu dieser Fixierung gehört eine deontologische Sprache, für welche die Kategorien richtig/falsch oder geboten/verboten entscheidend sind. F. will diese Begriffe nicht über Bord werfen, sondern ihren rechten Ort in der gelebten moralischen Praxis verstehen, die er an konkrete Situationen gebunden sieht. Nicht weil ein Nothelfer eine moralische Norm beachte, begreifen wir sein Handeln als gut, sondern weil der Herr aus der Nachbarschaft Hilfe brauchte. Auch der Nothelfer orientiere sich selbst nicht zuerst an Prinzipien, sondern an der Not des Anderen (vgl. 50).
Wer die Aktion des Nothelfers als gut bezeichnet, nimmt intuitiv wahr, dass hier etwas Gutes geschieht, und diskutiert nicht zuerst seine Motive und Gründe. Diese gehören zum Ganzen des Geschehens, auch wenn sie unter bestimmten Perspektiven für sich betrachtet und beurteilt werden können. Aber auch dann bleiben sie auf die Situation und die Frage nach dem Guten in dieser Situation bezogen. Sie sind keine selbständigen Größen – genauso wenig wie es das »Gute« an sich ist.
Aber was ist das Gute? Das ist eine von F.s interessantesten und in systematischer Hinsicht wichtigsten Thesen: Was gut ist, er­schließe sich uns in konkreten Situationen, und zwar in Form von Allgemeinbegriffen, die es nur in concreto gibt, wie etwa »dem Nächsten«. F. spricht auch von »Wahrnehmungsmustern«, kulturell geprägten Bildern und Narrativen, die in neuen Situationen aktiviert werden. Im Nachbarn wird dann der »Nächste«, in der Tat des Nothelfers der barmherzige Samariter wiedererkannt. Dass es moralisch Gutes gebe, wissen wir nur als Angehörige einer moralischen Gemeinschaft; es habe immer schon eine bestimmte inhaltliche Ausprägung (96).
F.s Ansatz ist so etwas wie eine Moraltheorie des Konkreten. Als Theorie geht ihr Blick über das Singuläre hinaus, ohne dass sie ihre Bindung an spezifische Situationen verlieren will. Das zeigt sich auch in zwei weiteren Texten des ersten Teils, die sich mit Menschenrechten bzw. dem Verhältnis von Moral und Politik befassen. Moralische Wahrnehmung habe es mit dem »konkreten Anderen« zu tun, Politik hingegen mit »generalisierten Anderen«, d. h. mit Menschen als Angehörigen überindividueller Kategorien. Hieraus ergibt sich ein Spannungsmoment, das F. am Umgang europäischer Länder mit Flüchtlingen demonstriert. Moralische Einsicht werde am konkreten Anderen, d. h. an der Vergegenwärtigung von Einzelschicksalen gewonnen; politisches Handeln behandle ge­flüchtete Menschen unter dem Aspekt ihrer Angehörigkeit zu bestimmten, rechtlich relevanten Kategorien (109). So wird die Eigenlogik von Moral und Politik greifbar, nicht um ihrer gegenseitigen Stillstellung, sondern um ihrer realistischen Einordnung willen, die eine Entwicklung – nämlich die Transformation moralischer Menschenrechte in politische – durchaus im Blick hat.
F.s Religionstheorie, das Herzstück des zweiten Teiles, fügt sich nahtlos an diese Überlegungen an. F. ist an religiösen Zugängen zur Wirklichkeit interessiert. Er kritisiert eine szientistische Ontologie, nach der eine neutrale Empirie sauber von den Werten zu scheiden sei, die menschliches Leben bedeutsam machen sollen. Diesen Dualismus will F. bereits mit seiner Moraltheorie vermeiden. Ebenso wie Moral habe es nun auch Religion mit der »Lebenswirklichkeit« zu tun, in welcher sich Menschen orientieren. Menschliches Leben vollziehe sich in wechselnden »Präsenzräumen«, zum Beispiel demjenigen einer Krankheit (wie ein weiterer Aufsatz vorführt) oder der Gegenwart anderer Personen (194). Mo­notheistische Religionen verstehen diese Präsenzen noch einmal im Licht einer anderen Präsenz, der Präsenz ihres Gottes. In dessen Präsenzraum gelange man durch religiöse Praxis, d. h. durch die gemeinschaftliche Ausrichtung auf die Gegenwart Gottes und die Orientierung an dessen Selbsterschließung. Die Theologie dürfe »das dem Glauben eigene Wissen« nicht von einem vermeintlich neutralen Standpunkt aus entmündigen (228).
Mit diesem Religionsverständnis verortet sich F. im Bereich hermeneutischer Theologie. Der Ansatz beim Präsenzbegriff ist nicht völlig neu. Doch die Art und Weise, in der er diesen entfaltet, ist in ihrer Klarheit beeindruckend. Insbesondere, was die Verbindungen zur Moraltheorie angeht. Aber auch im Hinblick auf seine Konsequenzen für Kirche, Theologie und religiösen Lebensvollzug.
Die christliche Ethik bleibt für F. untrennbar mit der Wahrnehmung Gottes verbunden. Ihre Aufgabe bestehe nicht in der »weltimmanent-kausalen Beeinflussung und Veränderung der Welt-zustände« (217). Es gehe darum, das eigene Verhalten durch die Präsenz Gottes bestimmen zu lassen. F. zitiert hier Dietrich Bonhoeffer: »Das Problem der christlichen Ethik ist das Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen« (DBW 6, 34). Es gehört zu F.s Stärken, in seiner analytischen Art deutlich zu machen, was mit einem solchen Satz ge­meint sein könnte. Doch reproduziert die kategorische Verneinung einer »weltimmanent-kausalen Beeinflussung der Weltzustände« nicht den Dualismus, den F. eigentlich zurückweisen will. Wenn die Gegenwart Gottes und seines Geistes dieser Welt gilt, müsste sie auf die ihr eigene Weise auch mit der Veränderung ihrer Zustände zu tun haben.
F.s Unterscheidungen sollten also nicht als Selbstzweck interpretiert werden. Sie dienen dem Verständnis des dynamischen menschlichen Lebens und der Gegenwart Gottes in selbigem. In der gegenwärtigen Situation der evangelischen Kirche haben sie greifbare Konsequenzen – etwa wenn es um die Bedeutung der Ortsgemeinde geht. Nicht in übriggebliebenen christlichen Traditionsstücken und letzten religiösen Nischen bleibt der Glaube an Gott lebendig, sondern in Gemeinschaften, die in der Gegenwart Gottes leben und sich von ihr bestimmen lassen.