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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

87–89

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ammer, Christian, u. Jörg Kärger [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Migration. Dynamische Prozesse in Natur und Gesellschaft.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 200 S. = Erkenntnis und Glaube, 50. Kart. EUR 25,00. ISBN 9783374061822.

Rezensent:

Philip Geck

Dieser Band ist aus einer interdisziplinären Tagung der Evange-lischen Forschungsakademie hervorgegangen. Ihr Thema lautete: »Ausbreitung und Abgrenzung – Dynamische Prozesse in Natur und Gesellschaft«. Der Sammelband trägt nun den Begriff der »Migration« im Titel, der als Metapher für vielfältige Phänomene verwendet wird. Um welche Phänomene handelt es sich? In ihrer Einführung sprechen die Herausgeber Christian Ammer und Jörg Kärger, beide Physiker, von »Bewegung« als fundamentalem Charakteristikum von Natur und Gesellschaft. Aus physikalischer Sicht sei eine gleichförmige Bewegung jedoch nicht von einem Ruhezustand zu unterscheiden; entscheidend sei die Beschleunigung, die einem Körper durch das Auftreten einer Kraft auferlegt wird. Es geht ihnen also um die Veränderung von Zuständen – das meint die Rede von »dynamischen Prozessen«. Zu diesen kommt es, wenn Moleküle auf Ausgleich drängen (das wird Kärger in einem eigenen Beitrag zeigen), Sporenpflanzen sich vermehren (siehe den Aufsatz des Botanikers Martin Schnittler), Sprachzusammenhänge aufgenommen oder auch verdrängt (Hans Ulrich Schmid aus linguistischer Perspektive) sowie Personen, Güter und Kapital ausgetauscht werden (wie der Volkswirt Oliver Holtemann vorführt). Bei den »dynamischen Prozessen« handelt es sich also um Wanderungsbewegungen oder Ausbreitungsprozesse. Das erklärt den Gebrauch des Begriffs »Migration«.
Natürlich schwingt hier auch das Interesse an einem Megatrend unserer Zeit mit: der globalen Migration vieler Millionen Wanderarbeiter und Flüchtlinge. Die Herausgeber sehen hierin einen be­sonders markanten Veränderungsprozess, der sich – auch als Folge von technologischen und ökologischen Transformationen – mit einer bis dato ungekannten Geschwindigkeit vollziehe, auch wenn sich dies lokal sehr unterschiedlich zeige.
In den sieben Beiträgen des Bandes geht es sehr nüchtern um Ausbreitungsprozesse in den jeweiligen Wissenschaftsgebieten der Autoren. Die weiteste Perspektive nimmt der Soziologe Rudolf Stichweh ein, der Migration als grundlegendes Strukturmerkmal menschlicher Sozialsysteme beschreibt – und als Motor sozialer Evolution, weil sie immer Veränderungen von Sozialstrukturen mit sich bringe. Zur Beschreibung der heutigen Situation erscheint Stichweh das Modell der funktional differenzierten Weltgesellschaft als angemessen. Diese kommuniziere global und ortsunabhängig. Einzelne Funktionssysteme wie Sport oder Wissenschaft seien zugleich Migrationssysteme, die zu globaler Bewegung in­nerhalb relativ homogener Milieus führe. Von dieser unterscheidet Stichweh »Exklusionsmigration« aufgrund von Vertreibung und anderen Zwängen. Beide Typen von Migration sorgten notwendig für Veränderung, sei es als kontinuierlicher Strukturwandel oder als Disruption. Die Hoffnung auf völlige Integration von Migranten, d. h. auf die unveränderte Reproduktion von Gesellschaften, erscheint Stichweh als unrealistisch und im Hinblick auf Innovationschancen auch nicht als erstrebenswert. – Fast alle Beiträge ha­ben einen ähnlich allgemeinen und einführenden Charakter wie derjenige Stichwehs. Neben den bereits ge­nannten Aufsätzen steht auch ein theologisch-exegetischer: Der Neutestamentler Andreas Lindemann führt vor, wie rasant sich die frühchristliche Bewegung unter den Mobilitätsbedingungen des Römischen Reiches ausbreitete. Der Band schließt mit einer Skizze Julia Hahns zu den Möglichkeiten globaler Technikfolgenabschätzung.
Die Qualität der einzelnen Beiträge steigt mit ihrem Präzisionsgrad. Je genauer die Aufsätze auf ihr Thema blicken, desto anregender sind sie auch in interdisziplinärer Hinsicht. Nicht, dass es zu Ausbreitungsprozessen in vielen Formen kommt, ist interessant, sondern wie diese verlaufen und inwiefern sie zu vergleichen sind. Hier haben die Naturwissenschaftler einen Vorteil. Sie bauen auf ein interdisziplinäres Gespräch auf, das sich der Thematik schon seit einigen Jahren unter dem Leitbegriff der »Diffusion« widmet – etwa auf der Konferenz-Serie »Diffusion Fundamentals«, die Jörg Kärger maßgeblich mitgestaltet hat. Dieser Diskurs hat einen präzisen Ausgangspunkt. Er fragt, inwiefern Ausbreitungsprozesse stochastisch be­schreibbar sind. Das ist der Fall, wenn es um »blinde«, nicht zielgerichtete Bewegungen von Entitäten geht – etwa auf der Ebene von Molekülen. Die betreffende Diffusionsgleichung hat der empirisch arbeitende Physiologe Adolf Fick im 19. Jh. formuliert und Albert Einstein 1905 erweitert. Auf ihrer Grundlage kann man berechnen, wie schnell ein Teilchenstrom ist bzw. wann es zu einem Konzentrationsgleichgewicht etwa von Molekülen kommt. Diese Form der Diffusion beschreibt Jörg Kärger. Es gibt aber noch weitere, komplexere Formen von stochastisch beschreibbaren Bewegungsmustern, die dann auch für Disziplinen interessant werden, die sich mit intelligenten Akteuren (oder sogar mit kulturellen Phänomenen) beschäftigen. Man hat zum Beispiel versucht, auf diese Weise Bewegungen von Tieren bei der Futtersuche, aber auch Migrationsphänomene in der Menschheitsgeschichte, nachzuvollziehen.
Im Beitrag von Kärger wird das nur angedeutet. Auch der Band als Ganzer verzichtet darauf, diesen Theoriehintergrund darzustellen oder die einzelnen Aufsätze auf ihn einzustellen. Deshalb wird sein Fokus etwas unscharf, etliche Beiträge bleiben sehr allgemein. Gewinnbringend ist aber die Sachlichkeit, die das Thema der Humanmigration dadurch erfährt, dass es in seiner Ähnlichkeit mit ganz anderen Phänomenen in den Blick genommen wird.