Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

80–82

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Enxing, Julia

Titel/Untertitel:

Schuld und Sühne (in) der Kirche. Eine systematisch-theologische Untersuchung.

Verlag:

Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2018 (2. Aufl. 2019). 322 S. Kart. EUR 40,00. ISBN 9783786731580.

Rezensent:

Michael Weinrich

Für die protestantische Tradition gehört es zum spezifischen Entdeckungshorizont ihrer Entstehung und somit auch zur DNA ihrer Identität, dass die Kirche immer auch der Sünde verfallen kann, ja dieser tatsächlich auch stets verfallen ist in eben dem Maße, in dem sie von Menschen inszeniert und zu geschichtlicher Darstellung gebracht wird. Es wäre schon eine überaus erstaunliche Frage, wollte man darüber debattieren, ob es in der Kirche auch Sünder gibt, sind wir doch alle Sünder, auch wenn wir uns alle von der gnädigen Zuwendung Gottes in Jesus Christus gerechtfertigt auf die Beine gestellt wissen dürfen und in der Kirche versammelt sind. Das »simul iustus et peccator« mit seiner paradox erscheinenden Radikalität von »totus iustus« und »totus peccator« gehört nicht nur zur Identität der gläubigen Existenz jedes einzelnen Christen, sondern auch zu dem prägenden Realismus des theologischen Kirchenverständnisses im Protestantismus, weil in beiden Fällen konsequent die jeweilige Rechtfertigung allein in Christus geglaubt und entsprechend zu bekennen ist.
Ganz anders sieht nach wie vor die Gesprächslage in der katholischen Kirche aus, wo zweifellos auch anerkannt ist, dass es in der Kirche Sünder gibt, es aber zugleich höchst umstritten bleibt, ob auch die Kirche selbst von der Sünde betroffen und beschädigt ist. So sieht sich die römisch-katholische Verfasserin der zu besprechenden Habilitationsschrift (Sankt Georgen, Frankfurt a. M.) mit überaus grundsätzlichen Herausforderungen konfrontiert, wenn sie angesichts der insbesondere seit 2010 vermehrt bekannt gewordenen Skandale sexuellen Missbrauchs unter Klerikern und Or­ densleuten in der römisch-katholischen Kirche der Frage nach »Schuld und Sünde (in) der Kirche« nachgeht. Dabei geht sie von der sich dann bestätigenden Hypothese aus, dass es in der offiziellen Lehre die insbesondere vom Ersten Vatikanischen Konzil geprägte einseitige Betonung der Heiligkeit der Kirche sei, die es der Kirche nicht nur schwer mache, mit der in ihr anzutreffenden Schuld an­gemessen umzugehen, sondern sie sogar ausdrücklich darin be­hindere, eine glaubwürdige Position zu den erschütternden Skandalen zu formulieren, die sie nun in ihren institutionell tragenden Strukturen einzuräumen hat.
Hauptgegenstand der Untersuchung von Julia Enxing ist die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, auf dem in unterschiedlichen Zusammenhängen um die Frage der Schuld (in) der Kirche kontrovers gerungen wurde, was dazu geführt hat, dass sich das Konzil in der Regel auf Formulierungen verlegt hat, die unterschiedlichen Zugängen und Perspektiven Anschluss ermöglichen, ohne aber zu tatsächlicher Klarheit zu gelangen. Es war insbesondere Karl Rahners Anliegen, dass sich die Kirche zu einer angemessenen Selbstwahrnehmung auch dem Umstand zu stellen habe, dass sie selbst – und nicht nur einzelne Mitglieder oder Amtsträger – Schuld auf sich geladen habe, um deren Vergebung zu bitten unmittelbar zu den Vollzügen ihrer sich auf ständige Erneuerung ( semper reformanda) ausgerichteten Selbstwahrnehmung ge­höre. Auf der anderen Seite verstummt aber bis heute nicht die seinerzeit etwa von einigen Konzilsvätern immer wieder vorgetragene Position, dass es gerade die Schuldlosigkeit bzw. Reinheit der Kirche sei, die das in die Kirche gesetzte Vertrauen legitimiere und ihm das nötige Fundament für ihr Verständnis als Grundsakrament verschafften. E. geht nun gleichsam die neuralgischen Zusam­menhänge in den unterschiedlichen Konzilsdokumenten durch und macht einerseits auf die hinter den Formulierungen stehenden Kontroversen aufmerksam und zeigt andererseits die un­terschiedlichen Interpretationen und Rezeptionen auf, die sich in der nachkonziliaren Theologie bis in die Gegenwart hinein ausmachen lassen. Zudem zeigt sie auf, dass die Schuldfrage für die Kirche nach dem Konzil immer wieder in besonderer Weise virulent geworden ist, etwa in der Anerkennung ihrer historischen Schuld im Um­gang mit anderen Religio nen, insbesondere dem Judentum, ihrem Ver-sagen zur Zeit des National-sozialismus und nun eben angesichts der Enthüllungen des er-schreckenden Ausmaßes sexuellen Missbrauchs im Raum der Kirche. Dabei werden insbesondere das Schuldbekenntnis Johannes Pauls II. angesichts der Milleniumswende, das Schuldbekenntnis des Osnabrücker Bischofs Franz-Josef Bode »Mein Gott, ich schäme mich« (2010) und die Vergebungsbitte der katholischen Kirche in Luxemburg (2000) genauer angesehen, wobei sich zeigt, dass der vom Zweiten Vatikanischen Konzil hinterlassene theologische Schwebezustand nachwirkt und eine dezidierte Schuldtheologie, wie sie besonders pointiert von Karl Rahner eingefordert wurde, nach wie vor aussteht. Als eigenes Problem identifiziert E. die Frage nach der Konkretheit der zu benennenden Schuld, wobei sie selbst eine eher vermittelnde Position einnimmt.
Insgesamt liegt die Stärke der Untersuchung in der Präsentation der unterschiedlichen Gesprächslagen und der mit ihnen verbundenen Implikationen. Allerdings führt die für die Untersuchung gewählte deskriptive Bescheidenheit zu zahlreichen Redundanzen, die immer wieder das gleiche einigermaßen transparente Dilemma annoncieren. Eine eigene stringente systematische Re­konstruktionslinie wird von E. nicht in den Blick genommen. Zwar nimmt sie durchaus auch Stimmen zur Hamartiologie aus der Ökumene wahr, aber diese verleiten sie offenkundig mehr dazu, die Diffusität der Gesprächslage zu beklagen als nun klare systematische Differenzierungen auszuweisen. Der ganze Einleitungsteil führt vor allem zu dem Eingeständnis, dass es keine klare Unterscheidung von Sünde und Schuld gebe, so dass sich E. für eine bevorzugte Benutzung des Begriffs der Schuld entscheidet und den Begriff der Sünde nur für die Gesprächszusammenhänge vorsieht, in denen er sich ausdrücklich aufdrängt. Diese Entscheidung hat vermutlich zu einer deutlichen Moralisierung der Fragestellung geführt, die aber nicht eigens als Problem thematisiert wird.
Die ausdrücklich eingeräumte begriffliche Unschärfe begleitet dann die ganze Untersuchung. Sie wird auch nicht durch eine ausgewiesene methodische Selbstreflexion ausgeglichen. Die eingestreuten Regieanweisungen zur Lektüre können diese keineswegs ersetzen. Die Art und Weise, in der bei der Sichtung unterschiedlicher Problemzugänge beispielsweise die philosophische Position von Michael Theunissen mit nur eher äußerlichen Wahrnehmungen relativiert wird, lässt fragen, warum diese hier überhaupt zu Rate gezogen wird, angesichts des Umstandes, dass sich E. in den Grundlagenüberlegungen ja keineswegs dem Ideal größtmöglicher Vollständigkeit verschrieben hat. Der Relativierung vorgefundener Unterscheidungen entspricht keine angemessene Benennung der fehlenden systematischen Tiefenschärfe des Schuldbegriffs und des Sündenverständnisses, was dann im weiteren Verlauf der Untersuchung immer wieder zu der Verlegenheit führt, dass den Begriffen in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedliche Reichweite zu­kommt, wie etwa bei der Frage, ob es Sünder in der Kirche gebe. In diesem keineswegs randständigen Punkt bleiben die Überlegungen in systematischer Hinsicht einigermaßen schillernd.
Gleichwohl bleibt das Aufsuchen der Brennpunkte und Desi-derate der offiziellen theologischen Lehrentwicklung allemal eine interessante Lektüre, insbesondere – aber keineswegs nur – im Blick auf die aktuelle tiefe Verunsicherung angesichts der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Insofern gilt dem Interesse der Arbeit alle Sympathie des Rezensenten.