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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

76–78

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Nieden, Hans-Jörg

Titel/Untertitel:

Komponist und Religion. Kulturhistorische Porträts. Hg. v. M. Nieden.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2019. XVII, 445 S. = Musik und Religion / Religion und Musik, 2. Kart. EUR 49,90. ISBN 9783643129864.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Das alte Verhältnis von (Kunst-)Musik und Religion gewinnt mit der Epochenschwelle vor und nach 1800 ein neues Profil. Neben Kirche und Hof als herkömmliche Auftraggeber und Aufführungsorte tritt die Individualität des Komponisten, der sich um Aufträge bemüht und öffentliche Aufführungsstätten sucht, sei es in den »Akademien« als Vorläufern unserer heutigen Konzerte, sei es in bürgerlichen Opernhäusern. Damit richtet sich, wenn man nach der Beziehung von Religion und Musik fragt, sogleich die Aufmerksamkeit auf den Komponisten als individuelle Person und die in seiner Biographie vorliegende Verbindung von religiöser Ge­stimmtheit und musikalischem Werk. Es liegt auf der Hand, dass damit ein neuer methodischer Zuschnitt der Forschung verbunden ist, der historische Wahrnehmung des Lebenslaufes und mu-sikwissenschaftliche Analyse des Werkes zu verbinden verlangt.
Die biographische Fragestellung hat es mit Quellen aus der Ich-Perspektive ebenso wie mit Fremdbeobachtungen zu tun, mit Einflüssen und Abhängigkeiten, die eine Lebensgeschichte prägen. Die Repräsentanz der religiösen Dimension (in kirchlicher wie in nichtkirchlicher Perspektive) fällt dabei, je nach Quellenlage, un­terschiedlich aus. Die musikwissenschaftliche Analyse ist mit der Aufgabe befasst, Strukturen der Kompositionen als religiös zu identifizieren, auch jenseits religiöser »Stoffe« (im kirchlichen wie nichtkirchlichen Bereich).
Das anzuzeigende Buch von Hans-Jörg Nieden, das sich diesem Forschungsprogramm verpflichtet sieht, enthält nachgelassene Studien des 2015 verstorbenen Vf.s, der als Kirchen- und Schulmusiker in Neuendettelsau tätig war und an der dortigen Augustana-Hochschule über viele Jahre einen Lehrauftrag für Kirchengeschichte, Hymnologie und Liturgik wahrgenommen hat (vgl. https://augustana.de/aktuelles/aktuelle-meldungen/meldungen-sommersemester-2020/dr-hans-joerg-nieden-verstorben.html).
Es ist, geleitet von der programmatischen Einsicht in den Zu­sammenhang von Biographie, Religion und Musik, gut nachvollziehbar, dass die Reihe der vorgestellten Komponisten von Mozart bis Strawinsky reicht – von der Emanzipation des Komponierens aus dem höfischen und kirchlichen Milieu bis an die Schwelle der elektrischen Reproduzierbarkeit von Musik, jenseits derer sich neue Paradigmen auftun. Auf diesem Wege werden neben den Ge­nannten Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Franz Liszt, Richard Wagner, César Franck, Anton Bruckner, Johannes Brahms, Richard Strauss, Claude Debussy und Gustav Mahler behandelt, dabei jeweils biographische Eckdaten (besonders im Blick auf Religion) und exemplarische Analyse von Musikstücken kombinierend.
Es versteht sich von selbst, dass die Ergebnisse eine unterschiedliche Dichte aufweisen. Das hängt einerseits am verfügbaren biographischen Quellenmaterial und der individuellen (religiösen) Auskunftsfreudigkeit der Vorgestellten, andererseits an der notwendigerweise selektiven Behandlung von Kompositionen. Im Blick auf die Biographien ist es freilich nicht nur die Quellendichte, sondern auch die historische Forschungslage, die für Richtung, Ertrag und Grenzen verantwortlich ist; vor allem in diese sind Vormeinungen und Verortungen des jeweiligen Verhältnisses zur Religion eingegangen, mit denen der Vf. sich – in der Regel gut nachvollziehbar – auseinandersetzen muss. Die Triftigkeit der musikwissenschaftlichen Analysen entzieht sich selbstverständlich einer Behandlung in dieser Rezension; dafür wären mehr Platz und eine bessere Fachkompetenz als die meine nötig. Wichtig ist jedoch allemal die Beobachtung, dass sich der Vf. mit Erfolg um eine historische Kontextualisierung der Lebensläufe seiner Protagonisten bemüht (gut zu sehen bei Mendelssohn und Bruckner, auch bei Brahms), die sich nicht nur auf das kirchliche Christentum beschränkt (wie einleuchtend bei Wagner und Mahler zu sehen).
Der bildungsbürgerliche Horizont Mendelssohns (113–146) scheint als Hintergrund für den Umgang mit dem biblischen Text und seiner Aneignung durch, wie sich in der Analyse des »Lobgesangs« (B-Dur, op. 52) ergibt (126–139). Bei Bruckner (265–298) stellt sich die Aufgabe, seinen spezifischen Katholizismus als Horizont festzuhalten– und zugleich die musikalische Autonomie zu erkennen, die sich in seinem Werk realisiert (vgl. dazu die methodischen Bemerkungen [266 f. und 295–298] – und die Analyse der f-Moll-Messe [277–287]). Gelungen scheint mir auch die Herausarbeitung der »persönlichen Künstlerreligion« (324) bei Johannes Brahms im Kontext der Biographie (299–307) unter der Analyse der 1. Sinfonie c-Moll op. 68 (307–316).
Der Kunstreligion Wagners ist das umfangreichste Kapitel ge­widmet (181–230). Die intensive musikwissenschaftliche Tannhäuser-Analyse (196–221) hätte zum Unterschied von überkommener und neugestalteter Religion Material liefern können, dessen Verwertung ich freilich vermisst habe (vgl. zur Kunstreligion jedoch 219–221). Am meisten überzeugt hat mich – möglicherweise aufgrund eigener Voreingenommenheit – die Verbindung, die der Vf. bei Mahler (349–385) zwischen den »Liedern eines fahrenden Gesellen« (Nr. 1, 2 und 3) und der 1. Sinfonie D-Dur (erster und dritter Satz) herstellt (354–363; 377–382): Die »Annahme des Lebens in seiner Widersprüchlichkeit, seiner Gefährdung und Begrenztheit« (379) wird zum Knoten der musikalischen Religion Mahlers.
Es ist nicht zu übersehen, dass die Studien des Vf.s nicht zu ihrer endgültigen literarischen Form gelangt sind; das Vorwort des Herausgebers, Marcel Nieden, gibt darüber Auskunft. Doch ist der fragmentarische Stil für das Thema auch nicht unpassend; niemand könnte darüber ein formvollendetes Werk vorlegen wollen. Stattdessen regen die Beobachtungen des Vf.s dazu an, sich weiter in eine Verbindung von Religiosität und Musikalität zu vertiefen. Dafür gilt das Prinzip des eigenen Versuchs.
Wenn man, die Arbeit des Vf.s aufnehmend und wertschätzend, in dieser Richtung weiter vorangehen möchte, wäre es geraten, die biographische Ermittlung von Religiosität methodisch noch ge­nauer zu fassen – und auch den Versuch zu wagen, die musikwissenschaftliche Analyse gerade von »nichtreligiöser« Musik auf das Thema Religion einzustellen.