Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

48–49

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Riegert, Sarah

Titel/Untertitel:

Die »Ich-Sphäre« des Beters. Eine anthropologische Untersuchung zur Selbstreflexion des Beters am Beispiel von Ps 42/43.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 276 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 275. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-525-57136-1.

Rezensent:

Bernd Janowski

Der Doppelpsalm Ps 42/43 nimmt in der christlichen Frömmigkeitsgeschichte aufgrund des Kehrverses »Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?« (42,6.12; 43,5 in der Lutherübersetzung) von jeher eine herausragende Stellung ein. Und das obwohl der Text dieses Verses durchaus diskussionswürdig ist und es auch sonst zahlreiche Interpretationsprobleme gibt. Die vorliegende Arbeit, eine geringfügig überarbeitete Fassung einer von R. Achenbach betreuten und 2017/18 von der Evangelisch-theologischen Fakultät Münster angenommenen Disserta-tion, nimmt sich dieses Thema in umsichtiger Weise an und konzentriert sich dabei auf die Frage nach dem Selbstverständnis – oder in der Terminologie von Sarah Riegert: nach der »Ich-Sphäre« – des Beters.
Die Arbeit besteht aus sieben, unterschiedlich langen Kapiteln. Im ersten, »Grundlegungen« genannten Kapitel (11–57) wird zu­nächst das Thema umrissen (untersucht werden soll, »wie sich Subjektivität in der Psalmen vormodern ausdrückt und inwiefern dabei ein reflexives Selbstverständnis des Beters im Sinne einer Ich-Sphäre erkennbar wird«, 12) und anschließend die Fragestellung im Anschluss an H. W. Wolff (13–24) sowie an die neuere Forschung (Chr. Frevel, B. Janowski, J. van Oorschot, K. Seybold, A. Wagner u. a., 24–40) profiliert. R. greift dabei besonders auf das Phänomen der metaphorischen (Psalmen-)Sprache (Wolff sprach in seiner An­thropologie von der »Stereometrie des Gedankenausdrucks«), das Konzept des »ganzen Menschen« (relationale Ganzheit), den »konstellativen Personbegriff« (Zusammenhang von Leib- und Sozialsphäre) und die Differenzierung der Begriffe Person/Identität/ Selbst zurück und sucht diese Aspekte für ihre Analyse fruchtbar zu machen. Besonders hervorzuheben sind dabei die Beobachtungen zur sprachlichen Manifestation der »Ich-Sphäre«, d. h. dazu »wie das Konzept der Ich-Sphäre als konnektiv-selbstreflexive Bezugnahme zur Leib- und Sozialsphäre und zur Gottesbeziehung literarisch in der Selbstbeschreibung, genauer, der Ich-Rede greifbar wird« (43, das hört sich kompliziert an, wird aber aus den Darlegungen des ersten Kapitels verständlich).
Nach diesen begrifflichen und hermeneutischen Vorklärungen wenden sich die folgenden Kapitel der Analyse von Ps 42/43 zu. R. unterscheidet dabei drei Ebenen: Text, Form, Kontext (Kap. 2), Sprache (Kap. 3) und Struktur (Kap. 4). Im zweiten Kapitel (58–97) folgt auf die mit textkritischen und grammatikalischen Anmerkungen versehene Übersetzung – der Kehrvers wird erfreulich textnah übersetzt: »Was löst du dich auf, mein(e) Leben(skraft), und was braust du gegen mich auf?« – eine Formbestimmung von Ps 42/43 als Klagelied des Einzelnen, das aus drei, durch den Kehrvers ge-gliederten Strophen 42,2–6.7–12 und 43,1–5 besteht. Das ist natürlich nicht neu, sondern (fast) Konsens in der Psalmenforschung. Alle drei Strophen werden sodann hinsichtlich ihrer Pragmatik und Motivik beschrieben (68 ff.) und in den Kontext der Korachpsalmen Ps 42–49 eingeordnet (81 ff.). Obwohl von R. Gründe für die Erörterung der redaktionsgeschichtlichen Fragen an dieser Stelle genannt werden, hätte man sich auch (und vielleicht besser) einen späteren Ort (etwa nach Kap.4) dafür vorstellen können. Im dritten Kapitel (98–152, s. auch grundsätzlich 43 ff.) wird die »sprachliche Manifestation der Ich-Sphäre« von Ps 42/43 Vers für Vers untersucht (Zusammenfassung 152 ff.) und durch weitere Beispiele wie Ps 77,4.7.12; Klgl 3,20; Jon 2,8 u. a. ergänzt. Dieser – im Übrigen sehr gehaltvolle! – Teil der Arbeit, der nach der Analyse der einzelnen Verse immer einen Schlussabschnitt »Anthropologische Fokus-sierung« enthält, wird im vierten Kapitel (164–224) durch die de­taillierte Herausarbeitung der Strukturmerkmale fortgesetzt und vertieft. Dazu gehören die Wortebene (»Gott«, »Angesicht«, »Le­ben[skraft]«, Fragepronomen, Klangmuster, Wortfelder: »Wasser«, »Tempel«, »Gerechtigkeit«), die Satzebene (s. die Tabelle 196 f.), die räumliche und zeitliche Dimension (s. die Listen 200.203 f.) sowie die intertextuellen Bezüge innerhalb der Korachpsalmen Ps 42–49 und 84–85.87–88.
Alle diese Merkmale sind »Zeichen für Selbstreflexion«, was auch am Phänomen des sog. Stimmungsumschwung deutlich wird (166 ff.). Zwischen dessen Erklärung als textimmanentes oder als rituelles Prozessgeschehen besteht R. zufolge kein Gegensatz, in der Tat (vgl. 177 ff.). Es ist aber ein Unterschied (der von R. nicht immer beachtet wird), ob man nach der pragmatischen Bedeutung einer sprachlichen Handlung (Gebet) oder nach ihrem kultgeschichtlichen Ursprung fragt.
Im fünften Kapitel (225–248) werden weitere Beispiele für die »sprachlich explizite Selbstreflexion« des Beters gegeben wie etwa Ps 77 (227 ff., s. dazu bereits 154 ff.), Ps 3 und Ps 31 (237 ff.). Die Frage, ob auch Frauen als »Beterinnen selbstreflexiv ausgestalteter Psalmen« in Erscheinung treten, wird schließlich im sechsten Ka­pitel (249–253) kurz erörtert. Bei dem Nachweis expliziter Frauenperspektiven bzw. Frauenmotive in den Psalmen tut sich R. aufgrund der sprachlichen Eigenart dieser Texte naturgemäß schwer. Immerhin lässt sich mit ihr festhalten, dass Ps 42/43 »geschlechteroffen [ist] und [...] mittels einer ,rezeptionsorientiert intertextuellen‘ [M. Grohmann] Lesart für Beter/innen in verschiedenen Not-situationen eine Identifikationsmöglichkeit« bot (253).
Der Gesamteindruck, den diese Arbeit hinterlässt und der durch die Zusammenfassung im siebten Kapitel (254–259) noch gefestigt wird, ist durchweg positiv. Ihre Stärke liegt in der gelungenen Verbindung von gründlicher Textarbeit, intensiver Berücksichtigung der neueren Forschung zur alttestamentlichen Anthropologie und umsichtiger Beachtung der intertextuellen Zusammenhänge, in denen der viel zitierte Doppelpsalm Ps 42/43 steht. Abgeschlossen wird die Arbeit durch ein Literaturverzeichnis und ein knappes Sachregister.