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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1269–1270

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Neuner, Peter

Titel/Untertitel:

Turbulenter Aufbruch. Die 60er Jahre zwischen Konzil und konservativer Wende.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 310 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 32,00. ISBN 978-3-451-38414-1.

Rezensent:

Martin Bräuer

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Greshake, Gisbert: Kirche wohin? Ein real-utopischer Blick in die Zukunft. Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2020 (2. Aufl.). 254 S. Geb. EUR 24,00. ISBN 978-3-451-38637-4.


Gisbert Greshake hat das Alter (Jahrgang 1931) und das Renommee, das ihm das Recht gibt, einen Blick auf die Kirche der Zukunft zu werfen und Veränderungen vorauszusagen. Schließlich lehrte er lange Jahre Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Universität Freiburg i. Br. und kennt seine Kirche. In der Fachwelt gilt er als ein Vertreter und Kenner der Communio-Theologie, eschatologische Themen beschäftigen ihn bereits sein Leben lang und sein Buch Priestersein. Zur Theologie und Spiritualität des priesterlichen Amtes (Herder 1982) fand auch in der evangelischen Pastoraltheologie große Beachtung. Einer breiten Leserschaft ist er bekannt durch seine kleineren geistlichen Texte. In den Zukunftsperspektiven, die G. für seine Kirche entfaltet, kommen diese vielfältigen Bezüge seines Schaffens zusammen. Sie geben dem Buch eine spirituelle Tiefe und machen die Lektüre lohnend. Das Kirchenbild, das G. entwirft, ist nicht nur für römisch-katholische Kirchenlehrer von Belang. G. richtet sich an das Kirchenvolk, will knapp informieren, analysieren, argumentieren und vor allem Mut machen, Schritte in eine Zukunft zu wagen, in der der Kirche als Minderheit neue Aufgaben zuwachsen werden.
G. macht in den einleitenden Sätzen klar, dass ihm nichts an »Träumereien« (9) liege und »der eigentliche und letztlich angezielte Gegenstand der folgenden Darstellung […] die Gegenwart der Kirche« (ebd.) sei. Mit Blick auf das Inhaltsverzeichnis erstaunt diese Ansage. Nach den Prolegomena (9–24) widmet G. im zweiten Teil den bestimmenden Faktoren der gegenwärtigen kirchlichen Situation nur 60 Seiten. Das Hauptgewicht der Überlegungen liegt in den »Grundlinien einer künftigen Kirchengestalt« (87–233). Die einleitende und auf den ersten Blick nicht recht einleuchtende Konzentration auf die Gegenwart erklärt G. mit dem Begriff der Real-Utopie, der in Ernst Blochs »konkreter Utopie« ein Vorbild hat und eine realistisch mögliche Gesellschaftsveränderung meint. Auch in der Übertragung auf die Kirche geht es – immer ausgehend von den realen Verhältnissen – um mögliche Veränderungen. »Da in der Gegenwart unser Handeln herausgefordert ist, muss auf jene heutigen Tendenzen geblickt werden, welche in die Zukunft weisen und die wir durch unser Tun entweder abwürgen oder vorwärtstreiben können – alles mit dem Ziel, eine neue und glaubwürdige Gestalt der Kirche entstehen zu lassen […], ohne dass dadurch das Bleibende der Kirche auf die Leisten heutiger Plausi-bilitäten gespannt und damit nicht nur kraftlos, sondern auch überflüssig wird.« (12) Man kann in diesen Worten unschwer eine ge­wisse Ungeduld mit der kirchlichen Reaktion auf die gegenwärtigen Herausforderungen heraushören. Tatsächlich enthält G.s Real-Utopie eine Reihe von Sprengsätzen, die das Handeln der Kirchenleitung einer fundamentalen Kritik unterziehen und ihre »Nur-weiter-so-Strategie« in Frage stellen. Wenn sich G. auf den Standpunkt stellt, dass weder ein »Aussitzen« noch eine rein strukturelle »Reaktion« das eigentliche Problem der Kirche lösen, weiß er freilich auch um die Gefahr radikaler Forderungen. Die Real-Utopie ist insofern moderat, als sie die Realität nicht überspringen will. Sie hält sich nicht mit dem fiktiven Gegenbild auf, sondern sucht die Verschränkung dessen, was kommt, und dessen, was wird (22). Darum gilt – in einem strikt theologischen Sinn: Real-Utopien gründen in Realität und zielen auf Realität. »Gerade so bewahren sie vor der Flucht in die irreale, nur erträumte Sicht einer ›vollkommenen Kirche‹, wie sie durch die ganze Geschichte vor allem in sektiererischen und häretischen Gemeinschaften zu beobachten ist.« (24)
Die klare Gliederung folgt dem stringenten Argumentationsgang. Jedes Kapitel entfaltet eine These. Vom »Ende der sogenannten Volkskirche« (25–49) kommt G. über die Herausforderung der säkularen und postsäkularen Gesellschaft (54–69) zum Kernproblem der kirchlichen Glaubenslehre, dem »verengten Glaubensverständnis« (70–86). Auf diese Problemskizze antwortet G. in Teil III mit den fünf Grundlinien einer künftigen Kirche. Die bleibende Mitte der künftigen Kirche ist ihr »Sakrament-Sein« (87–95); die Kirche der Zukunft wird eine kleine Minderheit sein, stellvertretend für alle anderen (96–119); die Kirche der Zukunft wird einen geistlicheren Anblick bieten (120–157); die Kirche der Zukunft wird eine »Kirche der Laien« sein (158–196); die Kirche der Zukunft wird eine andere Sozialgestalt annehmen (197–230).
G. ist mit diesen Reformideen nicht allein. Es gibt eine ganze Reihe namhafter katholischer Theologinnen und Theologen, die in eine ähnliche Richtung denken, an ihrer Kirche leiden und ihr ein neues »Aggiornamento« wünschen. Auffällig heftig (aber gut be­gründet) ist die Kritik an der Volkskirche. Für G. ist klar, dass ihr Ende gekommen ist. Ihm ist auch bewusst, dass der Begriff »Volkskirche« unscharf ist. Ähnlich wie beispielsweise Paul Zulehner sieht G. in der sogenannten Volkskirche weniger die Real-Utopie des 19. Jh.s, sondern eine Sozialgestalt, die ihre Wurzeln in der europäischen Christentumsgeschichte hat. Die Privilegierung der Kirche durch den römischen Staat brachte der Kirche eine folgenschwere Symbiose. Anders als beispielsweise die pietistische Volkskirchenkritik hat G. ein sehr differenziertes Verständnis von der notwendigen Institutionalisierung der Kirche. Die sogenannte Volkskirche steht hier also für einen Prozess der Sakralisierung der weltlichen Strukturen und im Gegenzug für eine Profanisierung des Heiligen in einem Gewirr von Wahrheiten und Zweideutigkeiten! (34) Das Ende dieser Symbiose, das Auseinanderbrechen dieser Einheit, ist einerseits schmerzhaft und andererseits unvermeidbar. Aber sie ist keine Absage an eine Kirche, die für alles Volk offen ist.
Man findet diese Position auch in evangelischen Kreisen. Die Ausgangslage der römisch-katholischen Kirche unterscheidet sich jedoch markant. In G.s Augen ist die Klerikalisierung und Überinstitutionalisierung der Kirche eine Folge der alten Symbiose von Staat und Kirche. Die Spaltung in Klerus und Laien und die entsprechende Inszenierung der symbolischen Repräsentation der Hierarchie geben der Kirche ein bestimmtes Gesicht – es ist nicht die Ikone Christi! Die »duo genera Christianorum«, wie sie ein Text aus dem Decretum Gratiani (1140) beschreibt, bestimmt bis heute das Selbstbewusstsein der Kirche. G.s Herz schlägt für eine Kirche der Laien. Dabei geht es ihm aber nie darum, die Tradition oder die Institution in Bausch und Bogen schlecht zu machen. (46) Vielmehr »muss das institutionelle, besonders das amtlich-hierarchische Moment der Kirche von einer pointiert geistlichen Sicht der Kirche her heilsam relativiert werden. Kirche muss wieder mehr erkennbar werden als ›Bewegung des Evangeliums‹« (48).
Für die pointiert geistliche Sicht der Kirche findet G. Unterstützung in der Alten Kirche, den Konzilsschriften und immer wieder bei Karl Rahner. Dessen Wort vom Christ der Zukunft, der ein Mystiker sein wird, ist das Leitzitat, man könnte auch sagen, das Herz dieser ekklesiologischen Skizze (128–147). Der »geistlichere Anblick« zeigt sich in einer geistlich gefeierten Liturgie, in einer Seelsorge, die auf die Spiritualität fokussiert ist, und am Zeugnis eines Amtes, das sich auf die Begleitung der Laien konzentriert. Das Mystische kann aber nicht verengt, vereinheitlicht oder per Dekret »von oben« durchgesetzt werden.
Ein zweites zentrales Stichwort heißt darum Bewegung. »Wir haben uns zu verabschieden von einer Kirche, welche die Menschen in ein geordnetes, einheitliches und deshalb auch überschaubares und lenkbares Gemeinschaftsgefüge einbinden, sie, im Pfarrbüro sorgfältig in Listen und Karten eingetragen, als feste, Beitrag zahlende ›Vereinsmitglieder‹ führt.« (106) Für G. folgt aus der Analyse des gesellschaftlichen Wandels, dass sich die Sozialgestalt der Kirche ändern muss. Was dies bedeutet, wird im letzten Kapitel des Buches erläutert.
Vergleicht man G.s Entwurf mit anderen ekklesiologischen Entwürfen, die gegenwärtig diskutiert werden, fällt auf, wie klar und entschieden hier eine Form von Glaubensgemeinschaft anvisiert wird, die sich auf die Fundamente des Glaubens beruft. Im Unterschied zu Bewegungen, die eine zukunftsfähige Gestalt der Kirche mit Anfragen an Glaubensüberzeugungen verknüpfen, eignet dieser Real-Utopie ein konservativer Zug. Das zitierte Wort des abgetretenen Papstes ist in gewisser Hinsicht programmatisch. Die Kir che, sagte Joseph Ratzinger schon 1970, »wird weithin ganz von vorne anfangen müssen« (11). Mit Papst Benedikt XVI. teilt G. auch eine– für evangelische Christen – rückständige Sicht bezüglich der Zulassungsbedingungen zum kirchlich-sakramentalen Amt. Weder in der Frage des Zölibats noch in der Frage der Frauenordination sieht G. die Zeit für eine grundsätzliche Weichenstellung gekommen (180–196). Man mag (als evangelischer Theologe) nicht alle Argumente dafür nachvollziehen, die G. ins Feld führt, aber merkt die tiefe Sorge um die Einheit der Kirche und den geistlichen Ernst, der ihn zurückhaltend votieren lässt. Nicht um Machterhaltung und Männerbünde geht es, sondern darum, dass die sakramentale Repräsentation Christi ein Amt bleibt. G. votiert für eine geistliche und strukturelle Erneuerung des priesterlichen Diens-tes. Er bringt sie auf folgende Kurzformel: »Der Priester der Zu­kunft wird vorrangig der Spiritual seiner Gemeinde sein und dabei auch sehr viel mehr als bisher einzelne Christen, die ihren Weg vor Gott suchen, geistlich begleiten und sie in ihrer Minderheitsposition stärken und ›trösten‹.« (195)
Die Rolle, die G. dem Priesteramt zutraut, ist wie ein Spiegelbild der Rolle, die in seiner Ekklesiologie der Kirche in der Gesellschaft zukommt. Die Kirche soll anderen Menschen als Communio dienen, das ist ihre Missio. Darum muss die Kirche an klaren Konturen festhalten. Sie muss zwar mit der Zeit gehen, aber sich dem Zeitgeist widersetzen, wenn sie nicht verschwinden und verdampfen will. »Die Kirche der Zukunft wird wieder zurückkehren zu den schlichten Glaubensaussagen der Heiligen Schrift und der ersten Jahrhunderte, die auf einfache Weise zum Ausdruck bringen, was Karl Rahner im Schlüsselwort seiner Theologie als ›Selbstmitteilung Gottes‹ zusammengefasst hat.« (108) In der Entscheidung für die klare Kontur ist ein reformatorischer Klang zu vernehmen; die Orientierung an der Heiligen Schrift begleitet vom glaubwürdigen Zeugnis erinnert an eine berühmte Losung Bonhoeffers, Christsein bestehe im Beten und das Gerechte tun. Zu den Grundlinien der künftigen Kirchengestalt gehören für G. auch religiöse Ausdrucksformen, »die sowohl Erkennungszeichen nach außen als auch Bestätigung nach innen sind« (109).
Was G. in seiner höchst lesenswerten Real-Utopie entfaltet, ist stringent gedacht, elegant geschrieben und auch für eine interessierte Leserschaft verständlich. Manchen mögen G.s Ansichten utopisch vorkommen, Christen, die einen mystischen Sinn haben, wissen, dass die Aussichten realistisch sind.

Zürich Ralph Kunz




Die 1960er Jahre gelten in Westeuropa als Durchbruch zur gesellschaftlichen »Fundamentalliberalisierung« (Habermas). Die vormals im Wesentlichen von Eliten und Bohème geteilten kulturellen Standards erzielen nun Breitenwirkung und verändern mit der Zeit die mentalen Befindlichkeiten aller Zeitgenossen. Auch die katholische Kirche geriet in diesen »turbulenten Aufbruch« hinein. Dass sie Teil des »turbulenten Aufbruchs« wurde, das zu beschreiben, hat sich der emeritierte Dogmatiker der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München, Peter Neuner, in seinem Buch vorgenommen. Dabei liefert er, wie er selbst zugibt, keine grundsätzlich neuen Beobachtungen zum Katholizismus der 60er Jahre (10). Aber er bietet eine hochinteressante Binnenperspektive auf die diversen, ja konträren Strömungen der unmittelbar postkonziliaren Phase, die bis in die jüngste Gegenwart nachwirken. N. kommt es vor allem darauf an, Wechselwirkungen zwischen Kirche und Welt aufzuzeigen.
Zunächst skizziert N. wesentliche Merkmale des Aufbruchsjahrzehnts (21–49) sowie die Kernanliegen des II. Vatikanischen Konzils (50–84), um anschließend im umfangreichsten Abschnitt des Buches die »kirchlichen Ereignisse im langen Jahr 1968« darzustellen (85–201). Unter »langen Jahr 1968« versteht N. die mit dieser Jahreszahl verbundenen mentalen Prozesse und Dynamiken. Durch die Adaption des in der Geschichtsschreibung eingebürgerten Begriffs vermeidet er die Fixierung auf Kalendergrenzen und stellt die Ereig-nisse in größere Zusammenhänge hinein. So kann die bedeutende Enzyklika »Populorum progressio« aus dem März 1967 ebenso in die Darstellung aufgenommen werden wie »Sacerdotalis caelibatus« (Juni 1967). Weiter finden natürlich Medellin und »Humanae vitae« ihren Raum, aber auch heute weithin vergessene Ereignisse wie das »Glaubensbekenntnis« Pauls VI., das Lehrbeanstandungsverfahren gegen Hubertus Halbfas oder die Kontroverse zwischen Kardinal Suenens und dem Papst um die Struktur der Kirche. Es zeigt sich, dass die ganze Ambivalenz der nachkonziliaren Entwicklung schon »1968« gegenwärtig ist. Deshalb macht es Sinn, dass N. in weiteren Kapiteln das Einfrieren der Reformen, die scharfen innerkirchlichen und theologischen Konflikte der Folgejahrzehnte, die Gründung neuer geistlicher Bewegungen und die Entwicklungen am äußersten rechten Rand der Kirche mit in den Blick nimmt (202–251). Denn damals pluralisierte sich der Katholizismus in verschiedene Richtungen, die miteinander nicht selten in Konflikt gerieten und es bis heute noch sind. Während für die einen z. B. das auf dem Essener Katholikentag begründete »Politische Nachtgebet« ein wichtiges Identitätsmerkmal wurde (146–152), sahen traditionalistische Gruppen wie die »Una Voce« – und die Priesterbruderschaft Pius X. in der Rückkehr zur alten Gestalt der Kirche und besonders zur alten lateinischen Liturgie die rechte Wahrung des katholischen Glaubens. Ferner haben kirchenamtliche Reaktionen auf die Ämterfrage und die Stellung der Laien in der Kirche ihren Platz. Für all diese Fliehkräfte »progressiver« und »traditioneller« Natur sieht N. letztlich die richtige Interpretation des II. Vatikanums als Urgrund an, die sich vor allem mit ihrer fortschrittsskeptischen Ausprägung kirchenamtlich durchgesetzt habe: »Die Tendenz zur Restauration war mächtig, und das auch dort, wo man das Konzil zitierte und sich auf seine Entscheidungen berief.« (250)
Im letzten Kapitel »Was ist geblieben?« (252–287) – dieser Teil macht noch einmal ein Drittel des Buches aus – resümiert N. die Nachgeschichte des turbulenten Aufbruchs (272). Dabei versteht er sich als Chronist und vermeidet Bewertungen nach links und rechts. Gleichwohl wird seine Position in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen um das Verständnis von Laie und Priester, den Status der universitären Theologie gegenüber dem bischöflichen Lehramt, die Ökumene oder die Theologie der Befreiung deutlich. In den gegenwärtigen Kirchenerfahrung sieht er die »Spätfolgen« der Er­eignisse der 60er Jahre (253) und führt die Ereignisse des langen Jahres 1968 darauf zurück, »dass es auch in der Kirche unterschiedliche Meinungen gibt« (272). Ein solches Erfahrungswissen erlaube eigentlich keine autoritativen Einzelentscheidungen und verlange vielmehr nach synodaler Umsetzung. Das ist ein sehr aktuelles Fa­zit. Abschließend kann festgehalten werden, dass N. ein Sachbuch vorgelegt hat, dessen Lektüre nachdrücklich empfohlen werden darf.