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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1263–1264

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Winkelmann, Judith

Titel/Untertitel:

»Weil wir nicht vollkommen sein müssen«. Zum Umgang mit Belastungen im Pfarrberuf.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 374 S. m. 4 Tab. = Praktische Theologie heute, 164. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-037058-6.

Rezensent:

Ralph Kunz

Der 164. Band der Reihe »Praktische Theologie heute« traktiert eine wichtige pastoraltheologische Frage. Vom Umgang mit Belastungen ist die Rede. Was Judith Winkelmann lösungsorientiert und nicht problemfixiert ausbreitet, ist empirisch fundiert, sozialwissenschaftlich differenziert und hat praktische Implikationen. W. hat 2018 in Marburg promoviert. Dass die Studie eine Qualifikationsarbeit war, merkt man einerseits an der Fülle der aufgearbeiteten Literatur und andererseits an der gekonnten Zuspitzung der Belastungsthematik auf eine Entlastungstheorie und die spezifische Frage nach der Anwendung von Coping im Pfarrberuf. Beides bedarf einer Anstrengung, die wohl nur im Rahmen einer Dissert ation zu leisten ist. Warum es wichtig ist, Copingtheorien zu unterscheiden, das Burnout-Syndrom näher anzuschauen, die Supervision als Rahmen für Coping vorzustellen und nach der theologischen Anschlussfähigkeit der sozialwissenschaftlichen Copingmodelle zu fragen, macht W. in konzise formulierten Leitperspektiven im ersten Teil »Coping im Pfarrberuf – sozialwissenschaftliche Perspektive« (25–87) klar. Im zweiten Teil »Anforderungen im Pfarrberuf – soziologische, kirchentheoretische und pastoraltheologische Perspektiven« (89–168) werden die Anforderungen in den gesellschaftlichen Kontext eingeordnet und von denjenigen im spezifisch kirchlichen Kontext unterschieden. Weiter werden die Ergebnisse von quantitativen Befragungen zu Anforderungen, Belastungen, Bewältigungsstrategien und Entlastungspotentialen erläutert und aus pastoraltheologischer Perspektive reflektiert.
Das eigentliche Herzstück der Arbeit ist die qualitative Studie (169–323). Die Forschungsfrage, das Verfahren und das Design der Untersuchung korrespondieren mit dem Erarbeiteten. In zahlreichen Fallbeispielen werden Copingstrategien der Interaktanten in den Themenbereichen von Amt und Person, spezifisch beruflicher Aufgaben wie Planen und Leiten, der beruflichen Beziehungen und Re­ligiosität/Spiritualität präsentiert, kommentiert und Schlussfolgerungen gezogen. In einem gehaltvollen Schlussteil werden theoretische Recherche, Ertrag der Studie und Handlungsperspektiven präzise zusammengefasst (325–358).
Die gut durchdachte Architektur und handwerklich solide Erarbeitung der Studie sorgt für einen reichen Ertrag. Die grundlegenden Kapitel informieren, die empirischen Kapitel validieren und die Schlussfolgerungen integrieren das Erarbeitete zu einem kompakten Ganzen. Verdienstvoll sind die Leitperspektiven in den ersten Unterkapiteln, die das ausgebreitete Wissen bündeln und verknüpfen. Der hohe Strukturierungsgrad und eine gewisse Strenge im Aufbau machen das Buch zu einem geeigneten »Nachschlagewerk«. Wer in der Kirche mit supervisorischen Aufgaben betraut ist, findet zu Themen wie Gesundheitsförderung, kom-petentes Leitungshandeln oder Ressourcenmobilisierung gutes Grundlagenwissen. Aufschlussreich sind die Handlungsperspek-tiven am Schluss des Buches auch für Leserinnen und Leser, die Leitungsfunktionen innehaben.
Als wichtig erachtet der Rezensent die Unterscheidung eines lebens- und berufsförmigen Musters des Dienstverständnisses (Kapitel 10.3 und 11.2). »Während das lebensförmige Berufsverständnis sich als anfällig für intransparente Entscheidungen er­-wiesen hat und zugleich die Möglichkeit der Inkohärenz zwischen Rollenanspruch und gelebter Rolle eher gegeben ist, kann ein be­rufsförmigeres Berufsverständnis einen konzeptionellen Orientierungsrahmen bereitstellen.« (327) Zeigt doch die Studie, dass die in­­terviewten Pfarrerinnen und Pfarrer sehr wohl Strategien zur Selbstbegrenzung entwickelt haben, diese aber weitgehend situativ und individuell bleiben. »Leichter hätten sie es, wenn sie sich in einem konzeptionell reflektierten Orientierungsrahmen bewegten, der so­wohl mit dem jeweiligen Gemeindeprofil als auch mit der eigenen Persönlichkeit kompatibel ist und den nötigen Spielraum für die Organisation der Arbeit im Pfarramt gewährt.« (328)
Dieser Befund lässt sich durchaus als eine Art Quintessenz verstehen. W. will keine Generalrezepte – »Coping entzieht sich einer festen Programmatik« (357). Sie votiert für eine Aushandlung guter Arbeitsbedingungen. Dafür ist die Rollenklarheit der Beteiligten eine Bedingung. Nicht Solitäre sind gefragt, sondern Berufsleute, die etwas von der für die Gemeinde lebenswichtigen Beziehungsarbeit verstehen und die heilsame Differenzerfahrung, die sie vor der Erschöpfung bewahrt, mit der Gemeinde zu teilen.
W. gelingt es, dem diffusen Phänomen der Belastung im Pfarramt durch eine Einführung in die theoretischen Hintergründe von Entlastung einen Boden zu geben und durch die empirische Studie fassbar und für eine praktisch-theologische Diskussion fruchtbar zu machen. Es ist unbestritten der Vorteil und Gewinn qualitativer Studien, dass sie die subjektiv empfundene Seite eines Phänomens erheben und so für die Reflexion erschließen können. Insofern kann die vorliegende Forschungsarbeit als eine wertvolle Sehhilfe begrüßt werden.
Die gegenwärtigen Herausforderungen und An­forderungen im Pfarrberuf werden präzise, systematisch und strukturiert erfasst. Der gewählte Fokus schafft eine Grundlage, Entlastungsstrategien in den verschiedenen Dimensionen aufzuspüren und die Potentiale konzeptioneller Unterstützung für Be­rufsleute auszuloten. Mit dieser Zielrichtung ist W. ein Beitrag zur pastoraltheologischen Diskussion gelungen, der zweifellos praxisrelevant ist. Die Forschungsfrage, das gewählte Design der Studie und die damit gegebene anvisierte Anwendung der Ergebnisse sind insbesondere für die berufliche Aus- und Weiterbildung von Interesse. Sie können freilich den Teil der Belastungsproblematik, der seinen Sitz im Leben der Gemeinde hat, nicht in seiner ganzen Tiefe ausleuchten. Darauf weist auch das Leitzitat hin. »Weil wir nicht vollkommen sein müssen« besagt etwas über das Wir-Gefühl einer Profession im Kontext der Gemeindearbeit. W. interpretiert den Satz im Licht der kreuzes- und rechtfertigungstheologischen Überlegungen Henning Luthers zur fragmentarischen Identität. So gedeutet, nämlich kritisch und konstruktiv im Sinne einer Absage an eine falsche Selbstoptimierung der Rollenträgerin, rückt das Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit in die Nähe der Einsicht, das Liebesgebot als Evangelium und nicht nur als Gesetz zu hören. Die Zurückweisung der eigenen Vollkommenheitserwartung, die in der Verneinung mitimpliziert ist, muss auf dem Hintergrund einer Vorstellung von Heiligung gesehen werden, die auch in der Gemeinde virulent ist. Auch die Gemeinde als kollektives Subjekt steht unter einem Optimierungszwang und muss Strategien der Selbstbegrenzung lernen, die nicht nur situativ sind. »Weil wir nicht vollkommen sein müssen« wäre ein guter Leitsatz für das Leitbild der Gemeinde und kein schlechter Ansatz, um die wechselseitige Angewiesenheit in der Beziehungsarbeit von der Ge­meinde her – für das Pastoral und nicht nur pastoraltheologisch – zu bedenken.