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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1248–1250

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Vogelsang, Frank

Titel/Untertitel:

Soziale Verbundenheit. Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2020. 236 S. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-495-49148-5.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Frank Vogelsang behandelt in seinem klar aufgebauten und hervorragend geschriebenen Buch eines der ganz entscheidenden Themen heutiger gesellschaftlicher Entwicklung: die Frage nach der weiteren Entwicklung von Formen sozialer Verbundenheit zwischen den Menschen. Sein Ausgangspunkt ist, dass herkömmliche Formen solcher Verbundenheit wie Institution oder Organisationen von Parteien oder Kirchen immer weiter an Bedeutung verlieren. Demgegenüber setzen sich individualisierte Formen einer Egogesellschaft, getragen von aktuell vorherrschenden Ideologien, durch und bedrohen damit gemeinschaftliche, solidarische Lebensformen, die es zur Bewältigung der aktuellen Überlebenskrisen unbedingt braucht. V. sucht intensiv nach Lösungsmöglichkeiten dieser Krise des sozialen Zusammenhalts, ohne dabei jedoch auf regressiv-repressive »Angebote« hereinzufallen. Die Errungenschaften der Moderne, Freiheit, Gleichheit, Autonomie, dürfen nicht preisgegeben werden.
Entsprechend ist das Buch aufgebaut. So wird zu Beginn der von ihm so genannte »hegemoniale Diskurs der Spätmoderne« und seine Entstehung aus dem Neoliberalismus und linksliberalen Wendungen, aber auch aus dem Zuwachs der Bedeutung digitaler Technologien und – paradoxerweise – populistischer Bewegungen entfaltet. In diesem Diskurs stellt der Individualismus die zentrale Orientierung dar. Er forcierte dementsprechend Werte wie Autonomie, individuelle Nutzenorientierung und abstrakte Universalität auf Kosten der Wertschätzung des gemeinsamen Lebens mit a nderen. Die Existenz von Zuwendung, Anerkennung und Ge­meinschaft wird als nachrangig angesehen. Diese Tendenz wird noch dadurch unterstützt, dass sich alles Leben nur noch als im Horizont der Gegenwart existent versteht. Vergangenheit und Zukunft als existentiell bedeutsame gesellschaftlich geschichtliche Dimensionen, »Herkunft« und »Hoffnung«, fallen aus dem Diskurs heraus.
In den späteren Kapiteln des Buches widmet sich V. dann dem Wandel von Formen der Verbundenheit in Zeiten großer Transformationen und analysiert in dieser Hinsicht die entsprechenden Konstruktionen im konservativen und progressiven Diskurs sowie im Bereich des christlichen Glaubens. Im Blick auf die Zukunft unterstützt er die gängige These, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen insbesondere hybride Netzwerke, sozusagen als letzte Formen der Verbundenheit, allgemeine Anerkennung finden werden. Sie vereinen am besten die Interessen individualisierter Individuen mit den Notwendigkeiten sozialen Engagements.
Am interessantesten in V.s Studie sind allerdings nicht diese, sehr kundig und plausibel durchgeführten Analysen und Beschreibungen, sondern ist seine leitende These, dass es jenseits aller derzeit hegemonialen oder früheren Diskurse eine grundsätzliche existenzielle Verbundenheit der Menschen geben werde, die sich aus ihrer leiblichen Verfasstheit ergebe, die aber systematisch aus der Wahrnehmung moderner Menschen verdrängt werde, obwohl sie faktisch alles grundiere. Diese These wird in den mittleren Kapiteln 4 und 5 entfaltet. Sie dient als Grundlage für einen insgesamt durchgehend optimistischen Klang des Buches. Die Schlussthese, der gemäß es »jenseits des einfachen Appells an eine allgemeine Welt umfassende Humanität und der einfachen Fixierung regionaler Unterschiede« einen gemeinsamen Weg der Menschheit geben wird, basiert auf den diesbezüglichen Annahmen.
V. bezieht sich dabei auf die phänomenologischen Analysen vor allem von Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels. Ihren Theorien sei der Ausgangspunkt gemeinsam, dass Menschen sich nur in den Horizonten gemeinsamen menschlichen Zusammenlebens individualisieren können. Ebendiese Voraussetzung bleibe im aktuellen hegemonialen Diskurs aber im Dunkeln. Näherhin handele es sich dabei um die Verfasstheit des Menschen als Leib, der ihn mit anderen Leibern zusammenschweißt, wohingegen der Körper genau das ist, was der Einzelne zu beherrschen versuche und das ihn somit von Anderen isoliere. Während der Körper aus einem angegebenen sozialen Kontext isoliere – »Ich habe einen, meinen Körper«, tue der Leib dies gerade nicht – »Ich bin ein Leib, wie alle anderen auch.« Deutlich wird, wie hinter diesen Unterscheidungen für die Moderne zutiefst grundlegende Überzeugungen zumindest seit Descartes stehen. Über V. hinaus könnte man sagen: Es ist der – letztlich männliche – weiße, westliche, protestantische Mensch, der mit seinem Körper die Welt beherrscht. Und es sind die femininen, nichtweißen unterdrückten Leiber, die die ganzheitliche Verbundenheit sicherstellen.
Merleau-Ponty bringt diesen Gedanken insbesondere in seiner Idee der »Zwischenleiblichkeit« zum Ausdruck, was am Beispiel des Händeschüttelns recht plausibel erläutert werden kann. Denn in dieser Geste kann der Andere als Erweiterung des eigenen Leibes erfahren werden. Alle Erfahrungen der Anerkennung beruhen auf solchen vorangehenden Erfahrungen der Verbundenheit. Insbesondere die Sprache könne als Hinweis für die Existenz der Zwischenleiblichkeit gelten. Die Zwischenleiblichkeit beschreibe eine grundlegende Passivität der menschlichen Existenz, an der alle Menschen Anteil haben und auf der sich die eigene Identität durch Identifizierung mit Anderen aufbaut. Damit sie Wirklichkeit wird, muss sie aber aus sich heraus aktiv gestaltet werden und in dieser Hinsicht lässt sich wenigstens festhalten, dass es Erfahrung existenzieller Verbundenheit gibt.
V. gibt zu, dass die Artikulation leiblicher Verbundenheit durchaus auch beunruhigend sein könne und nicht nur friedensstiftende Effekte haben müsse. Insgesamt entwickelt er seine Thesen jedoch primär aus ihrer Solidarität und Frieden stiftenden Funktion heraus. Deutlich wird, dass er ihr liberalismuskritisches Potential herausstellen will. Ein Menschenbild, das Moral nur aus den angeblich rationalen Interessen der Einzelmenschen rekonstruieren zu können glaubt, sei illusionär und zerstöre gerade jene Voraussetzungen der Gemeinsamkeit, die es zu seinem Funktionieren braucht. Und damit hat V. den Nagel auf den Kopf getroffen!
Allerdings ist die Arbeit noch nicht ganz getan. Denn warum gerade die Erfahrung leiblicher Nähe zutiefst unerträglich ist, da sie meine eigene Leiblichkeit relativiert und beeinträchtigt, bleibt offen. Wenn es nur der Körper des Anderen wäre, der meinen Ekel erzeugt, könnte er noch beherrschbar sein. Sofern es sich aber bei diesem Körper um die Verlängerung meines eigenen Körpers handelt, kann die Bedrohung so elementar werden, dass ich sie nur noch durch die Tötung des Anderen meine bewältigen zu können. Beispiele dafür sind allgegenwärtig. Aber klar ist: Verbundenheit braucht die körperlich-leibliche Bestätigung. Daran gilt es weiter zu arbeiten.