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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1245–1247

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Meyer-Magister, Hendrik

Titel/Untertitel:

Wehrdienst und Verweigerung als komplementäres Handeln. Individualisierungsprozesse im bundesdeutschen Protestantismus der 1950er Jahre.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XVI, 641 S. = Religion in der Bundesrepublik Deutschland, 7. Geb. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-156260-0.

Rezensent:

Julian Zeyher-Quattlender

Dürfen evangelische Christen zur Landesverteidigung zu den Waffen greifen? Diese Frage erhitzt innerhalb des deutschen Protestantismus bis heute die Gemüter. Sie steht für eine der zentralen Grundkontroversen evangelischer Friedensethik von nach wie vor hoher kirchenpolitischer Aktualität. Die im Jahr 2017 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians Universität in München eingereichte und 2019 bei Mohr Siebeck in Tübingen erschienene Dissertation von Hendrik Meyer-Magister macht diese Frage zum Ausgangspunkt einer umfassenden theologiegeschichtlichen Rekonstruktion der innerprotestantischen Diskussionen um die westdeutsche Wiederbewaffnung mit dem Ziel, im Nachzeichnen dieser Debatten eine Individualisierungstendenz der protestantischen Nachkriegsethik sichtbar zu machen. Ob­wohl der Fokus der 574 Seiten starken Studie auf der historischen Rekonstruktion liegt, macht die enge Verzahnung von Theologie geschichte und Ethik und die konsequent durchgehaltene An-bindung theologiegeschichtlicher Erkenntnisse an das ethische Grundanliegen der Arbeit die Untersuchung zu einer eindrucksvollen Studie systematischer Theologie, die einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der Ethik des deutschen Nachkriegsprotestantismus leistet. Hervorgegangen ist die Studie aus der ersten Förderphase der DFG-Forschergruppe: Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989 un­ter der Leitung von Reiner Anselm, der auch die Betreuung der Arbeit übernommen hat.
Die Studie gliedert sich in acht Kapitel. Nach einer knappen Einleitung (Kapitel 1) werden in einem ausführlichen wissenschaftstheoretischen Kapitel (Kapitel 2) zentrale Vorklärungen zu den Forschungsperspektiven der Studie vorgenommen. M.-M. führt dabei heuristische, theoretische und methodische Überlegungen in einer forschungsleitenden Operationalisierung zusammen. Damit wird das Ziel der Studie, »den heuristischen Protestantismusbegriff, das soziologische Begriffsinstrumentarium der Individualisierungstheorie und die zeithistorische Methode der historischen Diskurs-a nalyse im Hinblick auf einen protestantischen Individualisierungsdiskurs in der Kriegsdienstverweigerungsdebatte konzep-tionell zu verschränken« (64 f.), in klarer, verständlicher und übersichtlicher Weise transparent gemacht. Der konsequente Rekurs auf die Individualisierungstheorie Ulrich Becks als zentrale Referenztheorie macht die Soziologie zur wichtigsten Gesprächspartnerin dieser theologischen Studie und unterstreicht den interdisziplinären Anspruch der Untersuchung. In diesem Kapitel, in dem der ethische Zuschnitt der Arbeit nochmals besonders deutlich wird, erweist sich M.-M. in einem breiten wissenschaftstheoretischen Kontext als sprachfähig und versiert sowie höchst reflektiert im Blick auf das eigene Vorgehen. Grundlegende heuristische Vorklärungen wie diese kommen leider oft in vielen systematisch-theologischen Studien zu kurz, weshalb die detaillierte Art und Weise, wie M.-M. sie in diesem Kapitel seiner Untersuchung voranstellt, als vorbildlich gelten kann.
Nach einer Kontextualisierung hinsichtlich der historischen und juristischen Rahmenbedingungen der Kriegsdienstverweigerungsdebatte (Kapitel 3) konzentriert sich die Studie in drei ausführlichen Hauptkapiteln (Kapitel 4–6) auf den Zeitraum von 1950–1960, in denen chronologisch einschlägige Positionen referiert und zahlreiche relevante Quellen in ihren zeitgeschichtlichen Bezü-gen erschlossen und interpretiert werden. Durch die konsequent durchgehaltene inhaltliche Einteilung der Quellen in linksprotes-tantische, lutherisch-konservative und dezidiert kirchliche Stimmen behält die historische Analyse trotz des beachtlichen Umfangs des untersuchten, zum Teil wenig bekannten Quellen- und Archivmaterials ihre systematische Stringenz. Aufbauend auf den vorliegenden Forschungen zum zeit- und theologiegeschichtlichen Kontext arbeitet M.-M. auf diese Weise zehn Jahre bundesdeutscher Theologiegeschichte gründlich auf, ehe er die gewonnenen Forschungsergebnisse zusammenfassend auswertet (Kapitel 7). Insbesondere durch die Nachzeichnung der Formierung der kirchenpolitischen Flügel (Linksprotestantismus und Konservatives Luther tum) zeigt er dabei auch die Relevanz dieser Periode für die ge­genwärtige innerprotestantische Debattenlage auf. Dabei wird mancher neue Akzent gesetzt, so wird z. B. die Bedeutung der kirchenpolitisch neutralen Laien in diesem Prozess hervorgehoben, ebenso wird im Verlauf der Arbeit deutlich, dass »beide Flügel längst nicht so geschlossen waren und argumentierten, wie es vielleicht rückblickend erscheinen könnte« (vgl. 553 f.). Kulminationspunkt sowohl des historischen als auch des ethischen Forschungsinteresses stellt jedoch M.-M.s Auseinandersetzung mit den Heidelberger Thesen von 1959 und deren Konzept der Komplementarität dar (insbesondere 529–539). So war es insbesondere diese von Günter Howe und Carl Friedrich von Weizsäcker aus der Physik hergeleitete Denkfigur, die »dem bundesdeutschen Protestantism us langfristig eine Möglichkeit [eröffnete; J. Z.-Q.], trotz der bestehenden Streitfragen dauerhaft unter dem Evangelium zu­sam­menzubleiben, wie es die Synodentagung in Berlin 1958 in ihrer Ohnmachtsformel nur hatte hilflos fordern können, ohne eine theologische oder kirchenpolitische Lösung anbieten zu können.« (539) Durch Freilegung des anspruchsvollen erkenntnistheoretischen Hintergrunds des Komplementaritätsgedankens und die Differenzierung der durchaus unterschiedlichen Akzentuierungen bei Carl Friedrich von Weizsäcker und Günter Howe auf der einen und Eduard Schlink auf der anderen Seite zeigt M.-M., dass der Idee komplementären Handelns nicht nur die Vorstellung statischer Gleichwertigkeit zugrunde liegt, sondern in ihr ein Vorschlag für den ethischen Umgang mit dem Dilemma von Freiheit und Erhalt des Lebens insgesamt enthalten ist, der sich einem langen Konsultationsprozess im Dialog von Naturwissenschaften und Theologie verdankt. Diese für die Urteilsbildung evangelischer Ethik weitreichende Erkenntnis anschaulich gemacht zu haben, ist eins der vielen Verdienste dieser Arbeit, manch einer hätte sich die systematische Auseinandersetzung mit der Komplementaritätsethik vielleicht sogar noch etwas ausführlicher gewünscht.
Besonders bedeutsam für die gegenwärtige christliche Friedensethikdebatte ist schließlich die von M.-M. vor allem im Schlussteil (Kapitel 8) nochmals hervorgehobene Beobachtung, dass die Heidelberger Thesen, obwohl sie rezeptionsgeschichtlich umstritten blieben, doch richtungsweisend für das Kirchenverständnis in der EKD waren. Indem sie den in beiden Flügeln vertretenen Anspruch einer »Eindeutigkeit der ethischen Entscheidung angesichts der Frage der Atombewaffnung, die sich aus dem einen, unteilbaren und auch prinzipiell erkennbaren Willen Gottes ableiten lasse« (535) grundsätzlich verneinten, konnten zumindest langfristig die Gegensätze zugunsten eines langsam aufkeimenden innerkirchlichen Pluralismus in den Hintergrund treten.
Diese Erinnerung an das bleibende Verdienst der Heidelberger Thesen, die Unhintergehbarkeit der einzelnen Gewissensentscheidung, die M.-M. durch umfassende Quellenkenntnis historisch herausarbeitet und durch differenzierte Analyse in seiner ethischen Tragweite würdigt, würde vielen ethischen Debatten innerhalb des deutschen Protestantismus auch heute noch gut tun.