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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1239–1241

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Weber, Wolfgang E. J.

Titel/Untertitel:

Luthers bleiche Erben. Kulturgeschichte der evangelischen Geistlichkeit des 17. Jahrhunderts.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter Oldenbourg 2017. VI, 234 S. m. 16 Abb. Kart. EUR 29,95. ISBN 978-3-11-054681-1.

Rezensent:

Christopher Spehr

In den protestantischen Territorien der Frühen Neuzeit war der evangelische Pfarrer kulturprägend. Durch sein Amt nahm er Einfluss auf die geistige und moralische Entwicklung seiner Gemeinde und förderte durch Predigt, Sakramentenverwaltung, Katechese und Seelsorge den christlichen Glauben. Aufgrund dieser herausragenden Rolle erstaunt es, dass Studien über die evangelische Geistlichkeit der Frühen Neuzeit eher selten sind. Während meist einzelne Personen, Funktionsträger (z. B. die Hofprediger) oder spezifische Fragestellungen (z. B. Pfarrhaus, Memoria, Leichenpredigten) aus kirchenhistorischer und historischer Sicht intensiv erforscht werden, bleiben Überblicksdarstellungen zur Geistlichkeit die Ausnahme. Wolfgang E. J. Weber hat sich nun aus kulturhistorischer Perspektive der Aufgabe angenommen und für die lutherischen Pastoren des ausgehenden 16. und des 17. Jh.s eine feine, gut lesbare und quellenfundierte Überblicksstudie vorgelegt.
Der emeritierte Professor für Europäische Kulturgeschichte an der Universität Augsburg sucht im provokanten Titel »Luthers bleiche Erben« die Ambivalenzen der Geistlichkeit um 1600 zu beschreiben. Einerseits würden sie auf den großformatigen Ölbildern heute blass erscheinen, andererseits im Gegenüber zum Reformator Martin Luther, dessen Erben sie seien, eher farblos, unoriginell und ohne eigenes Profil daherkommen. Überhaupt – so W.s Beobachtung – sei die Phase zwischen ca. 1580 und ca. 1700, das »Zeitalter der Orthodoxie«, für die Kirchengeschichte und die allgemeine Geschichtswissenschaft im Vergleich zum Reformationsjahrhundert und zur Aufklärung des 18. Jh.s »ziemlich uninteressant« (1). Aus fachlicher Sicht ist diese Feststellung allerdings nicht haltbar, zumal es einerseits sehr wohl jüngere kirchenhistorische Überblicke über diese Phase gibt (z. B. Ernst Koch, Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus [1563–1675], Leipzig 2000; jüngst: Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums 4,1: Konfessionelles Zeitalter, Stuttgart 2018), zum anderen eine Reihe von Einzeluntersuchungen zum »konfessionellen Zeitalter« in den vergangenen Jahren vorgelegt wurden.
Von diesem Urteil einmal abgesehen, gelingt es W. in seiner Untersuchung gleichwohl, diese Zeit lebendig zu beschreiben und jenseits von territorialgeschichtlichen Fixierungen allgemeingültige Orientierungen im Blick auf die Genese des Luthertums an­hand des geistlichen Amtes zu entfalten. Quellengrundlage bilden die sogenannten »Pastorenspiegel« (10), welche praktische Anweisungen zum geistlichen Amt darstellen. Sie entstanden im 16. Jh. als berufsspezifische Anleitungsliteratur, waren im 17. Jh. weit verbreitet und wirkten auch im 18. Jh. – jetzt in pietistischer oder aufklärerischer Ausrichtung – prägend.
Nach einer Einführung skizziert W. im ersten Kapitel die »An­fänge«, indem er einerseits recht holzschnittartig Begründungen für die Entstehung des evangelischen »Pastorentums« (8) bei Luther und in der Confessio Augustana notiert, andererseits die »frühe[n] lutherische[n] Weiterentwicklungen« (10–19) anhand der ersten Pastorenspiegel entfaltet. So verfasste beispielsweise der Lutherschüler und Magdeburger Pfarrer Erasmus Sarcerius (1501–1559) das »Pastorale Oder Hirtenbuch« (1559), in welchem er u . a. betont, dass das Leben und Amt des Pastors eine Einheit bilden. Im Blick auf den Pastorennachwuchs hob er auf die Vorbildung und Aus-bildung durch Familie, Schule und Universität ab, welche zu professionellen pastoralen Qualifikationen führe. Deutlich wirkungsmächtiger als Sarcerius’ Werk war die Schrift des Melan-chthonschülers und Kopenhagener Theologieprofessors Niels Hemmingsen (1513–1600) »Pastor, sive Pastoris«. Die 1562 in lateinischer, 1566 in deutscher und 1574 in englischer Sprache publizierte Ab­handlung bildete nach W. »die früheste ethisch unterfütterte lebens- und berufspraktische Anweisung für den neuen lutherischen Pastor« (13) und betonte u. a. die Vorbildfunktion des Pastors für seine Gemeinde. Conrad Porta (1541–1585), Pastor in Eisleben, verfasste schließlich das »Pastorale Lutheri« (1582), in welchem er nicht nur ein gewachsenes Gemeinschaftsbewusstsein der »wahren« Luthernachfolger pointiert, sondern Luther selbst zum Apostel und Vorbild stilisiert. Dass sich die lutherischen Prediger so­wohl gegen die katholische als auch gegen die calvinistische Polemik im 16. Jh. abzugrenzen hatten, deutet W. im Unterabschnitt »Stimmen der Kritiker und Feinde« (19–24) an.
Im zweiten Kapitel untersucht W. sodann die »Wege in die Pfarrstelle« (27–46), wobei er nach Johann Gerhards »orthodoxer Systematisierung« des kirchlichen Lehrstandes mitsamt der Diskussion um ordentliche Berufung und angeborene Befähigung besonders auf die »korruptive[n] Wege« (40) in die Pfarrstelle eingeht. Simonie, Verwandtschaft oder Freundschaft spielen, so W. eindrucksvoll, bei den Stellenbesetzungspraktiken im 16. und 17. Jh. eine wesentliche, durch die Pastorenspiegel aber bekämpfte Rolle. Während das Einheiraten in eine Pfarrstelle durch Ehelichung der Pfarrwitwe oder -tochter vielfach üblich war, dürfte der Anteil der Pfarrer, die über Geldzahlungen in Stellen gelangten, weit höher gewesen sein als bisher angenommen.
Das dritte Kapitel entfaltet das Spektrum der Pastorentätigkeit von der Predigt bis zu den administrativen Diensten (49–70), während das vierte Kapitel die moralische Dimension der Amtsführung betont und den »Kampf gegen Unzucht, Tanz und Eigennutz« sowohl beim Pastor selbst als auch in dessen Gemeinde thematisiert (73–102). Aufmerksamkeit verdient sodann die von W. im fünften Kapitel diagnostizierte Veränderung des Wächteramts der Geistlichkeit gegenüber der weltlichen Herrschaft (105–123). Unter der Überschrift »Das Verstummen der Wachhunde: Vom Strafamt zur Herrschaftszuarbeit« beschreibt W. die intensive Debatte um das von Luther noch postulierte Recht der Pastoren, die Vertreter der weltlichen Obrigkeit zu kritisieren und abzustrafen. In dem Maße, in dem sich der frühmoderne Staat im 17. Jh. weiterentwi-ckelte und kirchliche Tätigkeiten zunehmend »verstaatlicht« wurden, nahm die Anwendung des pastoralen Strafamtes ab oder wurde ganz aufgegeben. Schließlich konnte im Wettbewerb mit dem Calvinismus (nicht nur in Brandenburg) das Luthertum sogar zur »Idealkonfession des Absolutismus« (121) stilisiert werden.
Welche sozialen und gesundheitlichen Opfer die Pastoren zu erbringen hatten, akzentuiert W. im sechsten Kapitel, das sich von Luthers »Anfechtungs- und Zuchtlehre« (176) herkommend mit »Selbstdisziplinierung, Melancholie und Devianz« befasst (126–145). Das siebte Kapitel handelt vom Einkommen und den Debatten um die Entlohnung der Pastoren (148–163) bis hin zur Verstaatlichung der Pfarrbesoldung. Das achte Kapitel (166–174) nimmt schließlich die Krisenwahrnehmung und Selbstkritik des Pastorenamtes in den Blick, die sich unter pietistischen und frühaufklärerischen Perspektiven zur Fundamentalkritik ausweiteten, durch die politisch-theoretischen und aufklärerischen Nützlichkeitsdebatten über das Pastorentum aber zumindest in Deutschland von den Theologen selbst mitbestimmt und somit positiv transformiert wurden. Eine »Bilanz« (175–178) fasst die Ergebnisse der Studie noch einmal zusammen, deren wissenschaftlicher Gewinn in der umfassenden und detailreichen Durchmusterung der Pastorenspiegel und der pastoralen Spezialliteratur liegt.