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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1236–1237

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ellis, David L.

Titel/Untertitel:

Politics and Piety. The Protestant Awakening in Prussia, 1816–1856.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. 338 S. = Studies in the History of Christian Traditions, 186. Geb. EUR 189,00. ISBN 978-90-04-30808-4.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Das Wechselverhältnis von Religion und Politik im Deutschland des 19. Jh.s findet in der neueren historischen Forschung verstärkt Interesse. So haben etwa Thomas Nipperdey und Christopher Clark die Bedeutsamkeit von Kirche und Glauben für die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts hervorgehoben. Die auf einer bei der Universität Chicago eingereichten historischen Dissertation beruhende, diese aktualisierende und erweiternde Studie von David L. Ellis nimmt sich des Themas am Beispiel einer bestimmten Gruppe der preußischen Elite an: des Kreises um die Gebrüder Gerlach, zu dem auch Friedrich Julius Stahl, Ernst Senfft von Pilsach, Moritz August von Bethmann-Hollweg, Ernst Wilhelm Hengstenberg und weitere gehörten. Diese Gruppe hatte großen Einfluss auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. und damit auf die preußische Politik der 1840er und 50er Jahre. Der Vf. verfolgt die politischen und kirchlichen Wege dieses Kreises von seiner Formierung während der nachnapoleonischen Restauration über die Zeit des Vormärz und der 48er-Revolution bis zum Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. Ausgewertet werden zumeist gedruckte Quellen, vor allem die Periodika, in denen die führenden Köpfe dieser Gruppe publizierten. Einzelne handschriftliche Quellen ergänzen die Darstellung. Viele Zitate sind in Übersetzung in den Haupttext aufgenommen, während das deutsche Original – nicht immer fehlerfrei – in den Fußnoten geboten wird. Die Übersetzungen ins Englische sind überwiegend korrekt und gelungen. An einzelnen Stellen finden sich aber Irrtümer und Missverständnisse, so etwa, wenn »Fluch dem Gotte, dem Tauben, / Zu dem wir vergebens gebetet im Glauben« wiedergegeben wird mit »Curse God, the Dove …« (203).
Die Einleitung und die sieben Kapitel der 300-seitigen Darstellung variieren das Thema Religion und Politik: Der Vf. zeigt, wie die Erweckungsbewegung in Brandenburg und Pommern entstand und sich verbreitete, wie sie einen Teil der zukünftigen preußischen Machtelite beeinflusste und wie sie sich in den 1820er und 30er Jahren politisierte. Mit dem Regierungsantritt von Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1840 bekam die vom Vf. untersuchte Gruppe von »Erweckten« Einfluss auf die praktische Politik, was an unterschiedlichen Beispielen von der Bekämpfung der vormärzlichen Reformpolitik bis zum im neutralen Preußen aufmerksam verfolgten Krim-Krieg behandelt wird. Berücksichtigung findet auch die Kirchenpolitik, etwa die Diskussion um die Kirchenverfassung in Preußen oder die Förderung der Inneren Mission.
Es wird deutlich, dass für die erwecklich beeinflussten Teile der preußischen Elite die Politik immer eng mit der Religion verbunden war: Politisches Handeln musste sich religiös legitimieren und diente religiösen Interessen, und es wurde erwartet, dass sich die evangelische Kirche auf die Seite des sich formierenden politischen Konservatismus stellt. Was diese Wechselbeziehung von Politik und Religion im Einzelnen bedeutete und wie sie praktisch um­zusetzen war, darüber wurde in den erwecklich beeinflussten Kreisen gestritten. Zudem erwies sich, dass das Doppelziel einer Stärkung des monarchischen Staats und der christlichen Kirche, das manche aus diesen Kreisen auch zur Idealvorstellung des christlichen Staats verbanden, trotz intensiver Bemühungen nicht so rasch erreichbar war wie erhofft. In einer Zeit der politischen Revolutionen, der Ausweitung der Öffentlichkeit und der Kulturkämpfe, in denen um die Deutung der Gegenwart und den Weg in die Zukunft gerungen wurde, erwies sich, dass das konservative Projekt – auch wenn es in Form und Gehalt selbst Ausdruck der Modernisierung war und von einflussreichen Fürsprechern propagiert wurde – nur in Teilen der Gesellschaft und Kirche Widerhall fand.
Der Vf. behandelt sein Thema in einem Längsschnitt über 40 Jahre hinweg und er kommt dabei auf viele unterschiedliche Beispiele der Verschränkung von politics and piety zu sprechen. Die analytische Vertiefung in einzelne Phasen, Protagonisten und Konzeptionen kommt dabei zu kurz. Zwar bemüht sich der Vf. um Differenzierung und er weiß, dass sich über 40 Jahre hinweg viel verändert hat und dass die Gruppe, der sein vorrangiges Interesse gilt, von vornherein disparat war, aber das hätte stärker berücksichtigt werden müssen. Ein Symptom der nicht immer gelungenen analytischen Durchdringung des sich verändernden und stets komplexen Wechselverhältnisses von Religion und Politik ist die Benennung der kirchlich-theologischen und der politischen Richtungen. Die Klassifizierung awakened verliert an Erklärungskraft, wenn man damit allzu großzügig umgeht und sie auch noch unreflektiert mit der in der Forschung kontrovers diskutierten Bestimmung conservative verbindet.
Das vom Vf. zugrunde gelegte Schema von »three broad schools« im deutschen Protestantismus Anfang des 19. Jh.s, nämlich »orthodox, rationalists, and the neo-Pietist Awakened« (50), entspricht nicht dem Stand der neueren theologiegeschichtlichen Forschung und vermag die Gruppe, mit der der Vf. sich schwerpunktmäßig beschäftigt, nicht überzeugend einzuordnen. Auch an anderen Stellen macht sich der Vf. zu wenig von der manchmal nicht ganz unproblematischen Sekundärliteratur frei. Mit dem deutschen Adjektiv evangelisch hat der Vf. Probleme und dessen sehr unterschiedliche Wiedergabe im Englischen wirkt nicht im­mer sachgerecht. Neben den zugegebenermaßen intrikaten Problemen der Terminologie gibt es auch eine Reihe sachlicher Anfragen. So dürfte der Vf. die Bedeutung der Erweckungsbewegung – zumal in der Mark Brandenburg – überschätzen. Über die Sicht des Verhältnisses von Religion und Politik in den erweckten Kreisen jenseits der preußischen Elite erfährt man nahezu nichts, obwohl doch gerade um die Jahrhundertmitte die breite Bevölkerung an Bedeutung für gesellschaftliche und kirchliche Diskurse gewann, was sich etwa im Aufblühen des vom Vf. mit Gewinn ausgewerteten Zeitungswesens zeigt.
Dass Luthers Zweireichelehre grundlegende Bedeutung für die ›Erweckten‹ gehabt haben soll, indem sie es ihnen erlaubt habe, religiösen Egalitarismus und politische Subordination zu verbinden, bedarf einer besseren Begründung, als der Vf. sie zu geben vermag. Auch formal gibt es kleinere Monenda, so sind nicht alle in den Fußnoten verwendeten Abkürzungen aufgelöst und die Be­zeichnung des Potsdamer Staatsarchivs als »Bundeslandes Hauptarchiv« (303) ist falsch, BLHA meint das Brandenburgische Landeshauptarchiv.