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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1232–1234

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Beutel, Albrecht

Titel/Untertitel:

Der »fromme Laie« Justus Möser. Funktionale Religionstheorie im Zeitalter der Aufklärung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. VIII, 228 S. Kart. EUR 19,00. ISBN 978-3-16-159540-0.

Rezensent:

Frank Stückemann

Der alljährliche Festvortrag zu Mösers Geburtstag, den die Stadt Osnabrück seit 1987 zusammen mit der Justus-Möser-Gesellschaft im Friedenssaal des Rathauses ausrichtet, zeitigt nicht nur Aufsätze in Fachzeitschriften oder Sammelbänden, sondern inspiriert auch zu weiteren Forschungen und Buchveröffentlichungen. Holger Böning etwa erweiterte seinen Vortrag von 2016 zu Justus Möser Anwalt der praktischen Vernunft. Der Aufklärer, Publizist und Intelligenzblattherausgeber (Bremen 2017; Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 110).
Ähnlich hat der Kirchenhistoriker Albrecht Beutel den Festvortag 2017 »Von der Nutzbarkeit des Glaubens – Justus Möser und die Religion« – vgl. ZThK 115 [2018], 260–294 – mit gründlicher Akribie zum o. g. Titel erweitert. Wie Böning hinter den Überhöhungen Mösers dessen angeblich singuläre »Zeitungsidee« durch Rekurs auf die Gattung des »Intelligenzwesen« gleichsam erdete, so erläutert B. nun den gegenüber der dogmatischen Standpunktfreude evangelischer Bekenntnistheologie völlig anders gearteten Religionsbegriff Mösers durch Vergleich mit Aufklärungstheologen wie Jerusalem, Lüdke, Semler oder Spalding (auf den der Begriff der »Nutzbarkeit« im Titel anspielt).
Er beginnt mit konstituierenden »Umständen« im Hochstift Osnabrück, vor allem der abwechselnden Herrschaft eines katholischen Bischofs und eines lutherischen Sprosses aus dem Welfenhaus – und absehbar negativen Konsequenzen für die Rechtssicherheit und -gleichheit der jeweils anderen Religionspartei. Im Spannungsfeld von Domkapitel und Ritterschaft, geistlicher und weltlicher Herrschaft samt ihren lokalen, reichspolitischen und weltgeschichtlichen Implikationen veranschaulicht er die Rolle der Theologen- und Juristenfamilie Möser in Osnabrück; das verfassungsrechtliche, am Gemeinwohl orientierte Profil des Juristen, Politikers, Historikers, Literaten und Christenmenschen Justus Möser gewinnt so an Tiefenschärfe.
Die Verfassung des geistlichen Wahlfürstentums Osnabrück bremste die zeittypische Tendenz zu absolutistisch-zentralistischer Strukturbildung aus und beförderte »die Einübung religiöser Toleranz wie überhaupt die Entstehung modernitätsträchtiger Gesellschafts- und Lebensverhältnisse nachhaltig« (7); so auch beim großen Sohn der Stadt: Man wird, »zumal aus dem Abstand der Zeiten, das unausgeschöpfte ökumenische Potential, das sei-nen kontroverstheologischen Befriedungsvorschlägen innewohnt, kaum hoch genug einschätzen können« (142). Das gilt nicht nur für Mösers Schreiben an den P. J. K. in W …, den ersten Schritt zur künftigen Vereinigung der Evangelischen und Katholischen Kirche betreffend, sondern für sein gesamtes publizistisches, schriftstellerisches und politisches Agieren.
Auch seine Zurückhaltung bei der »Gretchenfrage« nach Privatreligion und persönlichem Bekenntnis wird verständlich, weniger der illegitimen Zudringlichkeit als vielmehr des hohen Konfliktpotentials wegen: »Der abstrakten theologischen Theoriebildung vermochte Möser kaum etwas abzugewinnen« (48). Dieses Minenfeld überließ er ostentativ den Fachtheologen, um sich luzide und geistig beweglicher konkreten und lebenspraktischen Fragen zu widmen. Es gehört zu den Stärken der Studie, Mösers Selbstapostrophierung als »frommer Laie« als ironisches understatement verdeutlicht zu haben.
Hiermit korrespondiert eine nicht nur satirische Wahrnehmung der Lebenswelt aller Stände, ob es sich nun um Adel oder Bürgertum, Stadt- oder Landbevölkerung, Gebildete oder den »ge­meinen Mann« handelt. Neben einer Liste mit religiösen Redewendungen, einer Bibliographie und einem Personenregister bietet der Anhang fünf solcher standeskritischen Texte (auch dieses eine Parallele zum Textteil des o. g. Böning-Bandes). Auf S. 153 zieht B. völlig zu Recht literarische Parallelen zu Lichtenberg, Voltaire oder Swift. Bei dem bis heute keineswegs dumm gewordenen Salz oder Witz dieser damals so genannten moralischen Schriften triumphiert das reine Lesevergnügen.
Mösers »lebensweltliche Erfahrung« (178) – oder gelebter Schöpfungsglaube – fehlte vielen Theologen, vor allem, wenn sie mangelnde Kompetenz durch Standesdünkel und Streitlust ersetzten: »Aber mit einem interdisziplinären Austausch zwischen Theologie und Rechts- bzw. Politikwissenschaft, wie Möser ihn praktizierte, war es damals, zum Schaden aller beteiligten Fächer, nicht allzu weit her. Diese mangelnde fachwissenschaftliche Osmose wird auch in anderem Zusammenhang noch zu beklagen sein« (91).
Es verwundert nicht, dass Möser u. a. im Schreiben an den Herrn Vicar in Savoyen, abzugeben bei dem Herrn Johann Jacob Rousseau, die positive Religion den sehr viel blasseren Konstrukten der natürlichen Religion vorzog und – bei aller ironischen Stilisierung – durchaus Sympathien für die römisch-katholische Kirche hegte: Christentum war ihm wichtiger als die jeweilige Konfession; er interessierte sich mehr für Religion als für Theologie.
So verteidigte er Luther, aber keinen der übrigen Reformatoren mit Verve gegen Voltaire, weil es ihm um Authentizität und nicht um Lehrautorität zu tun ist. Die Reformation würdigte er als Mittel zur territorialen Eigenständigkeit, Alphabetisierung des gemeinen Mannes mitsamt einem »zweiten Weg zum Himmel, wo er ohne Maud und Zoll dahin kommen kann, wenn die Kirche den andern gar zu enge macht« (124). Mösers emanzipatorische Luther-Deutung blieb bis in den Vormärz lebendig, trägt ökumenische Züge und stellte Weichen zur katholischen Aufklärung.
Seine gesellschaftspolitische Funktionalisierung der Religion sollte keinesfalls als defizitäre Reduktion bewertet werden. Verzicht auf abstrakte theologische Theoriebildung bedeutete für ihn vielmehr religiösen Gewinn an Lebensnähe, Plausibilität und Evidenz. Werde hingegen »die bunte Vielfalt der Lebenswirklichkeit sträflich nivelliert«, so lasse sich davon »ein Zugewinn an praktischer Religiosität […] nicht erwarten« (186 f.).
B. hält also dafür, dass Möser »als ein authentischer, dabei freilich auch hoch origineller Repräsentant der vielgestaltigen Aufklärungsbewegung zu würdigen ist. Nicht nur in der allgemeinen Historiographie, sondern auch in der Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung gebührt ihm deshalb ein besonderer Rang« (189). Sein Fazit klingt nach Forschungsauftrag.