Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1218–1220

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Trick, Bradley R.

Titel/Untertitel:

Abrahamic Descent, Testamentary Adop-tion, and the Law in Galatians. Differentiating Abraham’s Sons, Seed, and Children of Promise.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2016. XV, 389 S. = Novum Testamentum. Supplements, 169. Geb. EUR 148,00. ISBN 978-90-04-32369-8.

Rezensent:

Dieter Sänger

Der Galaterbrief zählt zu den umstrittensten Paulusbriefen. Ein Grund von vielen ist seine polemische Signatur. Sie erweist sich im Blick auf die historische Rekonstruktion der galatischen Krise als sperrig und lässt Raum für unterschiedliche Perspektiven auf die Motive, Ziele und Interessenlage der Konfliktparteien. In seiner für den Druck überarbeiteten Dissertation (Duke University, 2010) befasst sich Bradley R. Trick mit einem zentralen Aspekt der pau-linischen Strategie, den Konflikt zu bewältigen und die Galater zurückzugewinnen.
Einleitend (3–25) benennt T. ein Problem, das sich für ihn aus dem begründenden Rekurs auf die Abraham-Thematik in Gal 3,6–4,31(5,1) ergibt. Prima facie erscheine die Argumentation inkohärent und wenig plausibel. Wieso aus dem Zitat in 3,6 (Gen 15,6LXX) folgt, nur οἱ ἐκ πίστεως seien »Söhne Abrahams« (3,7) und würden mit dem glaubenden Abraham gesegnet (3,9), sei ebenso unklar wie das, was den verschiedenen »portrayals of Abrahamic descent« (4) gemeinsam ist. Ist es jeweils der Glaube allein (3,7), die Christuszugehörigkeit (3,29) oder beides? Falls beides, auf welcher Basis ist Christus selbst der eine Nachkomme (σπέρμα) Abrahams (3,16), und inwiefern ist dessen Glaube das alleinige Kriterium »of a sonship that purportedly includes only Christians (3:6–7)« (ebd.)? Auch stehe 3,16 in Spannung zu 3,29, wo sich der generische Singular σπέρμα auf all jene bezieht, die »Christus gehören« und »Erben gemäß der Verheißung« sind. Und wenn Christus der verheißene Nachkomme Abrahams ist, wie kann Paulus dann Isaak in 4,28 als »the preeminent example […] of the children of promise« (ebd.) bezeichnen? Zwar könne der Apostel solche Unstimmigkeiten übersehen haben. Doch gebe Gal 2,1–10 zu erkennen, dass er durchaus in der Lage sei, judaistischen Angriffen erfolgreich zu begegnen. Vor allem aber deute im Brief nichts darauf hin, er sei sich be­wusst, die galatischen Gemeinden könnten seine Argumente möglicherweise problematisch finden. Vielmehr erwarte er, dass sie ihm zustimmen, die nötigen Konsequenzen ziehen und sich von den »agitators« (9) distanzieren. Jede Interpretation des Gal müsse daher a priori von einer »potentially persuasive« (7) Beweisführung ausgehen, die der spezifischen rhetorischen Situation Rechnung trage. Mit anderen Worten: Exegetisch wie hermeneutisch leitend ist die in den Brief eingeschriebene »perception of the crisis that shapes« Paulus’ »response« (10).
T. zufolge bestimmen im Wesentlichen drei Sachverhalte den paulinischen Wahrnehmungshorizont: 1. In den Gemeinden aktive toraobservante Judenchristen haben die Galater von der Heilsnotwendigkeit der Beschneidung überzeugt. Seinen Verzicht deuten sie als ein taktisches Zugeständnis (Gal 1,10), obwohl er einst selbst die Beschneidung propagiert habe (Gal 5,11b). 2. Der Wahrheitsanspruch seines Evangeliums wird von der »outside group« (14) ebenso angezweifelt (Gal 1,6) wie seine apostolische Autorität (Gal 1 f.). Die Galater glauben, er habe sie belogen (Gal 4,15 f.). 3. Ihr Verständnis der Schrift hat er während des Aufenthalts bei ihnen grundgelegt. Jetzt ist er herausgefordert, im Wissen um ihre Vertrautheit mit der Schrift seine missionarische Praxis zu rechtfertigen und zu erklären (21). Da Paulus in der rhetorischen Situation lediglich einen Versuch habe, die Galater von der »inadequasy of the agitators’ position« (19) zu überzeugen, müssten seine schriftbasierten Argumente für sie leicht verständlich und plausibel, zu­gleich aber auch so robust und exegetisch nachvollziehbar sein, dass es den Judaisten schwerfalle, sie zu widerlegen.
Gegliedert ist das Buch in drei Hauptteile, gefolgt von einer »Conclusion« (331–342): »Part 1. Sons (Gal 3:6–14)« (29–134), »Part 2. Seed (Gal 3:15–4:11)« (135–249), »Part. 3. Children of Promise (Gal 4:21–5,1)« (251–330). Summiert man den Ertrag, ergibt sich:
Entgegen der traditionellen Auslegung ist in 3,6–14 von einer »gentiles’ Abrahamic sonship« (30) keine Rede. Das komparative καθώς in 3,6 blickt nicht auf 3,5 zurück, sondern auf 3,7 voraus und bestimmt Abraham als exemplum der Glaubensgerechtigkeit. Unter der (freilich impliziten) Prämisse, dass in antiken mediterranen Kulturen die leiblichen Nachkommen »are manifestations […] of their ancestors« (46) – Paulus erinnert daran (V. 7a: »ihr wisst«) –, ist evident »that 3:7 […] identifies justification by faith as an essential characteristic of (Jewish) Abrahamic sonship« (ebd.). Die Streitfrage, ob der die Abrahamskindschaft kennzeichnende Glaube »in works of Jewish law« (31) zur Darstellung gebracht werden muss, verneint Paulus in 3,8–12 mit Verweis auf die Schrift (Gen 12,3; 18,18; Dtn 27,6; Hab 2,4; Lev 18,5). Sie bezeugt zum einen, dass die Segensverheißung für die Völker in der dem glaubenden Abraham zugeeigneten Gerechtigkeit gründet, und zum anderen, dass auch die Juden(christen) allein aus Glauben, der sie zum Halten der Gebote motiviert (110), gerecht gesprochen werden. Die Unterscheidung von Glaube und Gesetz bahnt den Weg für einen »christological twist« (121) in 3,13 f. Da der Gekreuzigte »uns (sc. den Juden[christen]) zugut« Fluch geworden ist, müssen die »Wir« dem Gesetz sterben und um ihrer Rechtfertigung willen (3,11 f.) ganz auf ihren Glauben an Gottes Verheißung bauen. In­dem sie im Glauben das Gesetz hinter sich lassen, werden sie »ef­fectively gentiles in Christ« (131; vgl. 245), haben Anteil an Abrahams Segen für die Völker (3,8–10.14a) und empfangen den Geist (vgl. 3,2 f.), der sie als Nachkommen Abrahams zu Gottes Kindern macht. Die Ironie: »Jews […] thus fully become Abraham’s promised descendants only by surrendering their status as traditional sons of Abraham.« (334) – Abschnitt 3,15–4,11 wechselt von den wahren Söhnen zu den wahren Erben Abrahams, die in 3,16.19.29 als seine Nachkommen identifiziert werden. Den Schlüssel zum Verständnis der paulinischen »υἱοθεσία and διαθήκη language« (143) liefert das zeitgenössische hellenistische Familien- und Erbrecht.
Wie dort bezeichnet διαθήκη in 3,15.17 eine rechtliche Verfügung. Auf dem Hintergrund von Gen 22,16 f. ist an Gottes testamentarische Adoption des Patriarchen gedacht (141.175). Sie impliziert, dass der verheißene Nachkomme ein Sohn Abrahams und Gottes sein muss. Als die Zeit der versklavenden Unmündigkeit (4,1–3) beendet war, sandte Gott seinen eigenen Sohn »to become a son of Abraham (4:4)« (247). Die Bedingung ist nun erfüllt, anfangs von Christus und später von allen, die in ihm vereint sind. Es ist diese »union in Christ« aus Juden und Heiden, »(which) constitutes the single divine Abrahamic seed who inher-its (3:29)« (334).
4,21–5,1 bestätigt, dass διαθήκη im Sinne von Testament die Windungen in Paulus’ typologischer Allegorie der beiden Mütter am besten erklärt. Der speziell auf die nichtjüdischen Erben Abrahams sich beziehende Ausdruck »Kinder der Verheißung« (4,28) kontrastiert unausgesprochen Heidenchristen mit Abrahams Kindern »nach dem Fleisch« (4,23), d. h. den Juden.
Um dem Missverständnis zu wehren, auch Judenchristen seien gemeint, differenziert Paulus zwischen christlichen und nichtchristlichen Juden, indem er in 4,24–27 die Magd Hagar und die Freie (Sara) als »the nonadoptive Sinaitic testament« bzw. »adoptive Abrahamic testament« (296) typologisch interpretiert. Sodann verschmilzt er beide Typologien (4,29 f.) und betont erneut die Interdependenz von Jude und Nichtjude in Christus. Anschließend resümiert er den Gedankengang und schlussfolgert wie in 3,6–14 und 3,15–4,11: Judenchristen sind aus der Knechtschaft befreit, der sich jene ausliefern, die »unter dem Gesetz sein wollen« (4,21). Worauf der Apostel hinauswill, geben 4,31 und 5,1 zu erkennen. Christus hat »uns« (sc. die an ihn glaubenden Juden) befreit »to become like gentiles« (328). Deshalb appelliert er an die heidenchristlichen Galater als Kinder der Freien, »to stand firm and refrain from becoming like non-Christian Jews« (ebd.).
T. hat es sich zur Aufgabe gemacht, die der Gestalt Abrahams zugeschriebene Beweisfunktion für die Unvereinbarkeit des Evangeliums mit »the agitators’ call for law-based circumcision« (24) in ein kohärentes »model of Abrahamic descent« (25) einzuzeichnen. Statt die paulinischen Argumente nach rhetorischen Kriterien zu klassifizieren, wählt er einen »text-based approach« (ebd.). Methodisch erscheint es jedoch höchst problematisch, dass die der Darstellung unterliegende Prämisse, Paulus habe mögliche Einwände der »agitators« nach Eintreffen des Briefs in den Gemeinden bereits antizipiert und seine Argumentationsstrategie darauf abgestimmt, als gegeben vorausgesetzt wird. Bei seiner Rekonstruktion der rhetorischen Situation operiert T. denn auch mit zahlreichen Unbekannten und lässt eine kritische Reflexion hinsichtlich der Validität seiner notwendig hypothetisch bleibenden Primärannahmen vermissen.
Die zentrale These, der Apostel unterscheide nicht zwei, sondern drei Gruppen innerhalb des »Abrahamic descent«: nichtchristliche Juden, Juden- und Heidenchristen (255), stützt sich fast ausschließlich auf Gal 3,6–5,1. Der literarische Kontext, in den die Beweisgänge eingelagert sind – er umfasst etwa zwei Drittel des Schreibens –, spielt kaum eine Rolle. Das gilt nicht zuletzt im Blick auf den programmatischen Abschnitt 2,15–21 mit der dreimal wiederholten Hauptthese des Briefs (V. 16), die in 3,6 ff. argumentativ untermauert wird. Ihre texthermeneutische Funktion als Verstehensregulativ wird dadurch faktisch suspendiert, mit gravierenden Folgen (nicht nur) für die Interpretation von 3,6–14. Abraham ist für Paulus zwar πίστις-Träger (3,6). Aber der Schluss, aus diesem Grund müsse sich der substantivierte Ausdruck οἱ ἐκ πίστεως (3,7.9) speziell auf Juden beziehen (334), da »justification by faith« ein Charakteristikum »of (Jewish) Abrahamic sonship« (46) sei, lässt eines völlig außer Acht: Bezugsgegenstand des Glaubens ist bei Paulus stets Christus. Der Rückfragen an T., seien es methodische oder exegetische, lassen sich leicht vermehren.
Bei der Studie handelt es sich um den ambitionierten Versuch, ein neues Kapitel in der Gal-Forschung aufzuschlagen und »a rather significant lacuna in the history of interpretation« (337) endlich zu füllen. Zweifel an dieser Einschätzung sind nicht nur erlaubt, sondern lassen sich begründen. Auch kann man darüber streiten, ob es die von T. registrierten Defizite und Probleme wirklich gibt. Jedenfalls zeigt sein Buch einmal mehr, was der Gal nach wie vor ist: einer der umstrittensten und zugleich theologisch gewichtigsten Briefe im Corpus Paulinum, der für seine Ausleger eine Herausforderung darstellt.