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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1200–1203

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Stipp, Hermann-Josef

Titel/Untertitel:

Jeremia 25–52.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. IX, 832 S. = Handbuch zum Alten Testament I/12,2. Lw. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-156633-2.

Rezensent:

Karin Finsterbusch

Der zu besprechende Band ist der zweite Band des Kommentars, den Hermann-Josef Stipp vor dem ersten Band vorlegt. Als Grund gibt er im Vorwort an: »Die Einleitung hat ihren ordnungsgemäßen Platz am Anfang, sollte aber zuletzt geschrieben werden, wenn die Thesen des Werkes feststehen […] Wollte ich sichergehen, nicht im zweiten Band die Einleitung neu entwerfen zu müssen, blieb nur der Weg, die Aufgabe von hinten anzupacken.« Dem zweiten Band ist aber eine kürzere Einführung beigegeben (1–36), die nicht nur alle nötigen Informationen zum praktischen Gebrauch des Kommentars enthält, sondern in der S. auch seine grundlegenden Thesen zur Entstehung der jeremianischen Texte vorstellt. Zu­nächst seien kurz S.s wichtigsten textkritischen Ansätze beschrieben, ohne die die Gestaltung des Kommentars nicht verständlich wird.
Jeremia ist textkritisch ein besonders interessanter Fall, insofern sich die masoretische Fassung (MT-Jer) und die griechische Fassung des Buches (LXX-Jer) erheblich voneinander unterscheiden, und zwar in Bezug auf Umfang (die LXX-Jer ist ca. ein Siebtel kürzer) und Struktur (die Fremdvölkersprüche stehen in unterschiedlicher Position und Reihenfolge). S. geht in Übereinstimmung mit nahezu allen Textkritikern (auch der Rezensentin) davon aus, dass der griechische Übersetzer(kreis) eine hebräische Vorlage übersetzte, die keine proto-masoretische Fassung war: Die Hss aus Qumran (insbesondere 4Q71/4QJerb und 4Q72a/4QJerd) belegen bezüglich der erhaltenen Sätze einen nicht-masoretischen Text; der Übersetzer(kreis) ahmte, wie anhand vieler Passagen belegbar ist, die hebräische Wortstellung und Syntax getreu nach unter Inkaufnahme erheblicher Verstöße gegen die griechische Stilistik und Idiomatik und bewies Quellentreue, insofern er weitgehend eine isomorphe Wiedergabetechnik anwendete. Dies alles spricht dagegen, dass es der griechische Übersetzer(kreis) war, der im großen Stil Auslassungen, Glättungen und Umstellungen vorgenommen hat (3 f.). S. wertet die LXX-Jer, die hebräische Vorlage sowie die einschlägigen hebräischen Fragmente als Zeugnisse eines Texttyps, den er alexandrinisch nennt (im Kommentar abgekürzt als AlT), und zwar im Hinblick auf die Annahme, dass dieser Texttyp im ägyptischen Alexandria (dem mutmaßlichen Ort der Übersetzung) ein Hauptverbreitungsgebiet besaß (4). Diesem Texttyp räumt S. »globale« Priorität vor dem MT-Jer ein: Der alexandrinische Texttyp verkörpert eine insgesamt ältere Wachstumsstufe des Buches, die dem MT-Jer aber nicht in »direkter Linie vorausliegt, sondern nach der Gabelung der Texttradition in zwei Arme noch ein geringes Maß an Eigenentwicklung durchlaufen hat« (4). S. be­gründet diese Verhältnisbestimmung vor allem mit der Existenz eines jeremianischen »prämasoretischen Idiolekts«, d. h. von be­stimmten stilistischen Merkmalen der masoretischen Varianten (wie spezifischen Wortverbindungen): »Die Zusammensetzung des prämasoretischen Idiolekts ist so geartet, dass keinerlei Motive ersichtlich sind, warum jemand gewünscht haben könnte, das be­treffende Vokabular aus dem Buch zu verbannen. Deshalb muss das Sondergut von Jer MT in der Regel aus Fortschreibungen herrühren, angebracht von einer kleinen Zahl von Bearbeitern« (4, vgl. auch 25).
Im Kommentar folgt S. dem Aufbau des masoretischen Jeremiabuches (deswegen beginnt der zweite Band mit dem Kapitel 25, das in der Fassung des MT-Jer, so S. zu Recht, die makrostrukturelle Agenda für den zweiten und dritten Buchteil vorgibt — der zweite Band vieler Jeremia-Kommentare beginnt dagegen mit Kapitel 26). Die Texte sind in Sinneinheiten untergliedert (die nicht immer mit Kapitelgrenzen identisch sind). Je nachdem, ob es sich um größere oder kleinere Einheiten handelt, erfolgen Übersetzung und Kommentierung der ganzen Einheit oder von weiteren Unterabschnit ten. Übersetzt wird nach dem MT. Bei der Übersetzung ist S. be­müht, »Wörtlichkeit und Konsistenz« zu verbinden (6). Die traditionelle Versgliederung ist übernommen, in Bezug auf die Satzeinteilung folgt S. in modifizierter Form der Biblia hebraica transcripta von W. Richter. Die masoretischen Überschüsse sind durch eckige Klammern ausgewiesen. Gelegentlich sind Varianten des AlT in runden Klammern ergänzt. Bei textkritisch besonders komplexen Befunden wie Jer 25,1–14 werden beide Fassungen hintereinander übersetzt. Im Anschluss an die Übersetzung sind philologische und textkritische Notizen beigegeben (häufiger mit Verweis auf einen angekündigten textkritischen Kommentar [TK], in dem S. seine Argumente ausführlich darlegen will, vgl. 6) sowie ein Literaturverzeichnis (in der Regel Literatur nach 1990). Ausführlich äußert sich S. dann in eigenen Abschnitten zu Fragen der Textgenese, Abgrenzung und Struktur. Abschließend folgt eine Vers-für-Vers-Erklärung.
Da der Schwerpunkt des Kommentars auf der diachronen Textanalyse liegt, sei in der gebotenen Kürze S.s Sichtweise der Entstehung des Jeremiabuches nachgezeichnet (für wichtige Details ist natürlich noch der erste Band abzuwarten). Bis ca. 550 v. Chr. (als das medische Reich den Persern unterlag und sich der Kollaps des Babylonischen Reiches abzuzeichnen begann) rechnet S. mit drei größeren Wachstumsschüben:
Zuerst entstand in der frühen Exilszeit in Juda das »judäische Jeremiabuch« (Jer *1,1–25,13, wobei der Visionsbericht 1,11–19 und das Gerichtswort *25,1–13 rahmende Funktion haben). Hierbei handelt es sich um eine weitgehend poetisch gehaltene reine Unheilsprophetie noch ohne theologische Aufarbeitung des Untergangs Judas. Vorherrschend ist das sogenannte Babelschweigen (die Anonymität des angekündigten Feindes aus dem Norden hat nach S. nicht die Funktion, ein Geheimnis zu hüten, sondern die Bedeutung des Feindes zu relativieren zugunsten des Geschichtslenkers JHWH; vgl. 631.634).
S. rechnet damit, dass in einem zweiten Schritt an diese Buchfassung bald die sieben echten jeremianischen Fremdvölkersprüche angehängt wurden (ohne die Sprüche über Elam und Babel): »Der Schöpfer des judäischen Jeremiabuches hatte für dieses Material, obwohl authentisch, kein Interesse aufgebracht, weil es ihm um die theologische Erklärung der Niederlage Judas ging und die ursprüngliche Funktion der echten Fremdvölkergedichte — die Warnung vor Bündnissen gegen die Babylonier — nicht mehr aktuell war« (19, vgl. auch 628–638).
In einem dritten Schritt erfolgte in der Gola die Erweiterung um das »babylonische Jeremiabuch« (Jer *26–44). Es enthält die Falschprophetenkomposition und Erzählungen vom Untergang des palästinischen Judäertums, wobei die omnipräsenten (zum Teil freundlich gezeichneten) Babylonier stets beim Namen genannt werden. Die Erzählungen enden mit dem Konzept der Total-emigration (der Flucht der im Land verbliebenen Judäer nach Ägypten in Folge der Ermordung Gedaljas), wobei der ägyptischen Diaspora der Untergang verheißen wird. Dies impliziert, dass es trotz ihrer Schuld am Untergang allein die babylonischen Exilanten sind, die den Fortbestand des Volkes ermöglichen können (24).
Da sowohl im judäischen wie im babylonischen Buchteil (nicht in den Fremdvölkersprüchen) Strata zu finden sind, die »wie vergleichbare theologische Traktate im DtrG die einschlägige Diktion nutzen, um typische theolo-gische Kernanliegen einzukleiden, so namentlich die Kultreinheit […]| als Bedingung des dauerhaften Landbesitzes …[,] erscheint das Etikett ›deutero-nomistisch‹ berechtigt« (17). S. nennt die Autoren (denen er nicht nur die Redaktion, sondern auch die Abfassung ganzer Einheiten wie 26*, 34 und 44,1–28 zuschreibt; vgl. 24) deshalb »jeremianische Deuteronomisten« — wobei man sich über den Begriff trefflich streiten kann: »JerDtr I« (verantwortlich für Jer *1,1–25,13) und »JerDtr II« (verantwortlich für Jer *26–44).
Nach ca. 550 v. Chr. bis zur »Gabelung der Texttradition« erkennt S. mehrere Redaktionen und Schichten:
Noch vor dem endgültigen Untergang des babylonischen Reiches entstand der Babel-Spruch, eine Anthologie, in der die Babylonier als von Gott zu bestrafende Verbrecher gezeichnet werden. Ziel dieser Sammlung war es, die gedemütigten Judäer aufzurichten (vgl. 759). In der Frühphase der nachexilischen Erneuerung Judas steuerte »JerDtr III« mit Jer 32* einen heilstheologischen Text bei (19). Eine auf das »babylonische Jeremiabuch« beschränkte »patrizische Redaktion« (PR) mit dem Anliegen, das Bild der von Jeremia scharf kritisierten judäischen Führungsschicht aufzuhellen (22), fügte mehrere Erzählungen von Parteinahmen einzelner Aristokraten zugunsten des Propheten ein (u. a. 26,10–16; 35 u. 36; 40,1–6). Sie wurden ohne Rücksicht auf die Chronologie vornehmlich in der Nachbarschaft von Erzähltexten platziert. S. erklärt also das dyschronologische Arrangement im Bereich von Jer 26–45 mit fünfmaligem »Zurückdrehen der Uhr« als Zeichen für Fortschreibungsprozesse und, u. a. gegen Stulman, nicht als gezielt eingesetztes künstlerisches Ausdruckmittel, das die Dramatik und Turbulenz des Untergangs Judas vergegenwärtigen sollte (vgl. 20). Eine buchübergreifende postdeuteronomistische Schicht erkennt S. in den »individuellen Prosaorakel[n]« (23); hierzu zählen im zweiten Buchteil das Heilswort für Ebed-Melech (39,15–18) und das Verschonungsorakel für Baruch (45,1–5). In der persischen Zeit entstand der Elam-Spruch (Elam ist Deckname für die Perser). Der Spruch erhielt den ersten Platz in der Fremdvölkersprüchesammlung, so dass diese Sammlung mit den Sprüchen gegen die Großmächte (Persien, Ägypten und Babylonien) begann (vgl. 745 f.). Die nachfolgenden Sprüche gegen die Nachbarn Judas lassen nach S. keine Ordnung erkennen (nur nach dem letzten Spruch gegen Moab, das sei hier noch ausdrücklich wegen der wichtigen Implikationen für die Frage der Priorität der Fassungen erwähnt, wurde schließlich eine Art Unterschrift angebracht, die sich nur im MT erhalten hat [48,47b], wo sie allerdings keinen Sinn macht, insofern der Moab-Spruch nicht mehr in der Endposition der Fremdvölkersprüche steht; vgl. 12.62). Schließlich wurde zu einem »nicht näher bestimmbaren, aber gewiss vorgerückten Zeitpunkt […] eine revidierte Fassung des Endes von 2 Kön« (25), nämlich Jer 52, angehängt.
Das Buchwachstum verebbte nach S. im späten 3. oder frühen 2. Jh. v. Chr., als mehrere proto-masoretische Redaktoren die Texte sti-listisch bearbeiteten. In diese Zeit verortet S. dann auch die Um­strukturierung der älteren Buchfassung und die Neuordnung der Fremdvölkersprüche, um dem gesamten Werk »einen folgerichtigeren Aufbau einzupflanzen« (26):
Die Reihenfolge der Fremdvölkersprüche im MT-Jer entspricht weitgehend der Völkerliste in der sogenannten Becherperikope (MT-Jer 25,15–38 // LXX-Jer 32). Dies ist für S. ein klares Indiz dafür, dass die Reihenfolge im MT-Jer sekundär hergestellt worden ist, denn im umgekehrten Fall wäre die Umstellung der Sprüche über die kleineren Nationen nicht zu erklären (62). Weiterhin steht die Makrostruktur des MT-Jer mit den Fremdvölkersprüchen am Buchende der Becherperikope nahe. Denn nach der Becherperikope kommt das Unheil gegen Juda bereits in Gang (vgl. MT-Jer 25,29), während es den Fremdvölkern noch bevorsteht. Es leuchtet nach S. nicht ein, dass dieses buchintern abgestimmte Gefüge hätte sekundär geopfert werden sollen (63).
Es ist S. zu wünschen, dass er den ersten Band dieses Opus magnum zügig abschließen kann. Der Kommentar wird Maßstäbe setzen.