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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1191–1194

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schmid, Konrad, and Christoph Uehlinger [Eds.]

Titel/Untertitel:

Laws ofHeaven – Laws of Nature. Legal Interpretations of Cosmic Phenomena in the Ancient World. Himmelsgesetze – Naturgesetze. Rechtsförmige Interpretationen kosmischer Phänomene in der antiken Welt.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. X, 182 S. = Orbis Biblicus et Orientalis, 276. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-7278-1773-1 (Academic Press Fribourg); 978-3-525-54405-1 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Sebastian Grätz

Dieser Sammelband geht zurück auf eine Tagung, die 2011 in Zürich abgehalten wurde und die sich einem Thema widmete, das im letzten Jahrzehnt verstärkt im Fokus sowohl der Altorientalis-tik als auch der alttestamentlichen Wissenschaft stand: der Frage nach der Anwendbarkeit des Wissenschaftsbegriffs im Sinne einer systematischen Erfassung und Interpretation natürlicher Phänomene (z. B. als »Naturgesetze«) auf die altorientalischen Kulturen inkl. dem antiken Israel. W. von Soden war bereits 1936 dieser Frage nachgegangen und hatte dabei den Begriff der »Listenwissenschaft« geprägt, der in seiner Rezeption dann zumeist als »parataktische« oder »additive« Epistemologie in den Gegensatz zur durch das antike Griechenland hervorgebrachten und im Abendland fortgeführten »hypotaktischen« Wissenschaft gestellt wurde.
Genau an diesem Punkt setzt der erste Beitrag des Bandes an: Konrad Schmid, Der vergessene Orient. Forschungsgeschichtliche Bestimmungen der antiken Ursprünge von »Naturgesetzen« – 20). Schmid kritisiert in seinem Beitrag, dass die Forschungsgeschichte bezüglich der Ursprünge von Naturgesetzen zumeist »blind« bei den Griechen eingesetzt und dabei den Orient vergessen habe. Ein Blick auf die Anfänge einer naturgesetzlichen Ordnung der Welt bei den Griechen zeige zudem, dass sich hier zwar der Begriff und die Sache »Naturgesetz« finden lasse, dieser aber noch »dynamisch« und »soziomorph« geprägt sei, so dass sich zunächst eine alternative Annäherung, nämlich über den Wissenschaftsbegriff, anbiete. Dieser, das zeigten bereits die einschlägigen Arbeiten des o. g. W. von Soden, lasse sich nämlich sehr wohl, insbesondere hinsichtlich der Mathematik und der Astrologie/Astronomie, mit den altorientalischen und altägyptischen Kulturen verbinden. Und in diesem Zusammenhang gehöre auch der Begriff vom »Gesetz« – z. B. im Alten Testament in Form der »Ordnungen/Gesetze ( ḥuqqôt) des Himmels« (z. B. Jes 33,25 f.; Hi 38,33). Im Folgenden bringt Schmid dann weitere Beispiele aus dem Alten Testament und dem Alten Orient (vor allem Enūma Eliš) bei, die zeigen, dass hier »rechts-förmige Interpretationen von Himmels- und Naturphänomenen [geboten werden], so dass die bisherige Lexikonkultur zu den Na­turgesetzen überdacht werden muss.« (17) Abschließend vergleicht Schmid das Verständnis der vorderorientalischen Rechtssätze, die, an den König gebunden, eher deskriptive und veränderbare als normative »Gesetze« seien, mit dem erhobenen Befund der »Naturgesetze«, die entsprechend, also dynamisch und soziomorph, zu verstehen seien.
Der folgende Beitrag von Francesca Rochberg, Where were the Laws of Nature Before There was Nature? (21–39), stellt angesichts der Feststellung, dass es einen Begriff für »Natur« im Alten Orient nicht gebe, die folgende These auf: »What I do set out to show is that a language of law and of judgement in the Babylonian sources bears relation to what is later quite clearly a laws of nature metaphor.« (23) Ansatzpunkt ist dabei, dass die »Gesetze« (bzw. die dahinterstehende Terminologie um kittu u mīšaru »Wahrheit und Gerechtigkeit«), wie sie etwa im Rahmen des Codex Hammurabi geboten werden, nichts anderes als die kosmische Ordnung darstellten. Rechtsterminologie, die das göttliche Recht repräsentiere, lasse sich auch in anderen literarischen Gattungen finden, so z. B. in magisch-divinatorischen Texten wie Maqlû, in Gebeten, in Schöpfungstexten (Enūma Eliš), oder in Omenserien (Enūma Anu Enlil). Insbesondere die beiden letztgenannten Werke zeigten, so die Autorin, dass die Schöpfung und die Einrichtung der himmlischen Ordnungen als Ergebnis rechtsförmiger göttlicher Anordnungen verstanden worden seien. Diese Verbindung von »Gesetz« und (kosmischer) Ordnung sei durchaus nicht von jener vormodernen unterschieden, die sich etwa bei Cicero (de re publica 3.33; de legibus 16,1.3) oder Philo (über das Leben Mosis 2.48) bis hin in die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Diskurse (deus legislator) verfolgen lasse. Gleichwohl sei festzuhalten, dass der keilschriftlichen Literatur der Naturbegriff gänzlich fehle, d. h., dass der Bezug der Rechtsterminologie zu einem eigenen Bereich physischer Phänomene nirgends vorliege, sondern die beobachteten Phänomene allein als Zeichen göttlicher Willensbekundung gedeutet worden seien, wie dies auch die konditional formulierten Omentexte zeigten.
Der Beitrag von Wayne Horowitz, All About Rainbows (40–51), setzt mit dem bekannten Text aus Gen 9,12–17 ein, differenziert jedoch von diesem die Bedeutung des Regenbogens in der mesopotamischen Literatur. Zunächst interpretiert der Autor das Phänomen nicht hinsichtlich der Bogenform, sondern der Farben. Der Regenbogen repräsentiere das Lapislazuli-Collier der Großen Göttin, das auch in Kontexten der mesopotamischen Flutberichte begegnet: Atrahasis III, v 46 f., vi 2,4; Gilgamesch XI, 154–167. In einem zweiten Schritt fragt Horowitz nach der akkadischen Terminologie und den in diesem Zusammenhang verwendeten Wortfeldern, die ebenfalls in Richtung der im ersten Punkt genannten Vermutung weisen. Schließlich fragt der Autor drittens nach der Bedeutung des Regenbogens in Omentexten, wobei die einschlägig positive Konnotation der Himmelserscheinung in Gen 9 nur eingeschränkt eine Entsprechung finde. Enūma Anu Enlil 47 und SAA 8 (H. Hunger, Astrological Reports to Assyrian Kings, Helsinki 1992) 502 seien Beispiele für den Regenbogen als schlechtes Vorzeichen.
Den Blick auf das antike Ägypten richtet Franziska Naether in ihrem Artikel: Naturgesetze und göttliche Justiz in Ägypten: zwei Pole der Betrachtung (52–70). Die beiden genannten Pole sind a) die Naturgesetze, die mit der altorientalischen Auffassung von den die menschlichen Natur-Erfahrungen bestimmenden Göttern vergleichbar seien, und b) das Recht im weitesten Sinne, das mit dem die Maße festlegenden Gott Thot in Verbindung gebracht worden sei, so dass hier auch die divinatorische Praxis des antiken Ägyptens rubriziert werden könne. In einem letzten Schritt fragt die Autorin nach »Anzeichen für ein Verständnis von Naturgesetzen in Berichten zur Schöpfung der Welt« (65) und fokussiert hier einschlägige Texte vom »Denkmal Memphitischer Theologie« (Z. 48–61) bis hin zum (römerzeitlichen) Papyrus Insinger und sieht hier mit J. P. Allen (Genesis in Egypt. The Philosophy of Ancient Egyptian Creation Accounts, New Haven 1987) Anzeichen dafür, dass es eine altägyptische Naturphilosophie bereits vor der griechisch-römischen Epoche gegeben habe. Die Autorin resümiert: »Das Wissen über die Naturgesetze wie auch über das Rechtsleben vereint, dass für beide ein göttlicher Ursprung angenommen wurde, beide aber auch in einer quasi-säkularen Denkweise, d. h. losgelöst von einem Schöpfer, betrachtet werden konnten.« (69)
David P. Wright, Law and Creation in the Priestly-Holiness Writings of the Pentateuch (71–101), untersucht die inhaltlichen Wechselbeziehungen zwischen der priesterschriftlichen Schöpfungsgeschichte (und weiteren P-Texten der Urgeschichte, insbes. der Fluterzählung) und dem legislativen Material aus Ex und Lev, das der P-Tradition zugeordnet werden kann. Er geht dabei von einem »Priestly-Holiness Corpus« (PH) aus, das seinen Kern in Ex 25–29a*; Lev 1–5*; 11–16 habe und um das herum oder auf das zu eine flankierende Erzählung (»ideologically supporting narrative«) gestaltet worden sei, die viel von dem P-Material aus Gen 1 – Lev 16 enthalte. Die Ausgangsüberlegung des Autors ist, dass die Schöpfung nach P in Gen 1 f. nicht zu ihrem Ziel gekommen sei, sondern erst mit der Etablierung verschiedener kultischer und gesellschaftlicher Gegebenheiten (Opfer, Offenbarung von JHWHs Namen und seiner kabôd, Kalender, die Verhältnisbestimmungen von »heilig« und »profan« sowie von »rein« und »unrein«, die Geburt der Nation, die Wiederaufnahme von Schöpfungsterminologie in der Erzählung vom Bau der Stiftshütte und danach). Insofern fasse die PH-Komposition die beiden im Alten Orient getrennt formulierten Themenbereiche Schöpfung des Kosmos (Enūma Eliš) und Offenbarung des Rechts (Codex Hammrabi) in einer Schrift zusammen.
Der folgende Beitrag von Jeffrey L. Cooley, Creation and Divination in Isaiah 2:1–4 (102–122), interpretiert Jes 2,1–4 vor dem Hintergrund von Schöpfungsvorstellungen und divinatorischen Praktiken aus dem antiken Mesopotamien. Dabei stehen insbesondere zwei Beobachtungen im Vordergrund, die miteinander in Wechselwirkung stehen würden: erstens die göttliche Herkunft der aus divinatorischen Praktiken gewonnenen Informationen und zweitens die in Enūma Eliš begegnende Vorstellung des idealen Kosmos: »Marduk has made manifest the prognostic nature […] of what he just created together with his purpose (dīnā dīnā, ›render judgement‹)« (113). Der Autor sieht in dieser Konstellation auch den Hintergrund der in Jes 2,1–4 mitgeteilten Vision, da die entsprechende Themenkomplexe begegnen würden: Mitteilung einer »Schauung« (ḥāzā, V. 1); himmlisch-kosmische Topographie (der Gottesberg) und die Mitteilung von »Tora« (vom Autor mantisch verstanden und etymologisch zum einschlägigen akkad. [w]u’uru »to send a message« gestellt). Insofern zeige der Text Jes 2,1–4 eine Kenntnis der mesopotamischen Tradition und deren Anwendung für einen ideellen Entwurf des zukünftigen Heiligtums in Jerusalem.
Der Artikel von Matthias Albani, »Beobachtet alle Werke am Himmel, wie sie nicht ihre Wege ändern …« Astronomie und Anomie in der frühjüdischen Henoch-Tradition (123–146), wendet sich nach Eingangsbemerkungen zum Alten Testament (Jer 31,36; 33,25 f.; Hi 38,33, die auch im Artikel von K. Schmid angesprochen sind) dem Henochbuch zu. Gleich zu Beginn seiner Untersuchung stellt der Autor seine These vor: »Die Gerechtigkeit Gottes, ein zweifelhaft gewordenes Axiom des biblischen Monotheismus (vgl. Hiob, Kohelet), wird im Henochbuch durch die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten neu plausibilisiert. Entsprechend ist hier auch das Ethos primär am Nomos der Natur orientiert.« (128) So entfaltet Albani in der Folge das Verhältnis von Naturgesetz und Gerechtigkeit im Henochbuch, das quasi die kosmische Ordnung in die Sozialordnung hinein transportiere, und zieht eine Parallele zu Kant: »Wie aus dem Vorwort des äthiopischen Henochbuches zu entnehmen ist, geht eine Art ›kategorischer Imperativ‹ von der gesetzesmäßigen Weltordnung aus: Sei gerecht! – so wie die vorbildlichen Gestirne, die ihre vorgeschriebenen Bahnen nicht ändern.« (133) Das Henochbuch vermittle dementsprechend Sinnstiftung durch Beobachtung und Deutung der natürlichen Phänomene.
Der Beitrag von Jörg Hüfner, Messende und mathematisierende Astronomie im Altertum (147–161), evaluiert die antiken Naturbetrachtungen aus der Perspektive der modernen Physik. Der Autor stellt einleitend die unterschiedlichen Folgen der jeweiligen Grundannahme eines geozentrischen bzw. eines heliozentrischen Modells anhand der Marsbewegung um die Erde bzw. um die Sonne bei den Astronomen Brahe und Kepler dar. So seien die Beobachtungen und Folgerungen Brahes (geozentrisch) nicht »falsch«, diejenigen Keplers (heliozentrisch) aber konsistenter und plausibler. Zugleich hätte Kepler seine Ergebnisse ohne die sorgfältig dokumentierten Beobachtungen Brahes nicht erzielen können. Die Beobachtungen sind demzufolge von den Folgerungen zu unterscheiden. Daher porträtiert der Autor in einem nächsten Schritt die mesopotamische Astronomie/Astrologie u. a. am Beispiel der Venus und der Bestimmung der achtjährigen Venusperiode, die, als reine Beobachtung (ohne die hieraus abgeleiteten ominösen Konsequenzen) genommen, als einer der ersten Bausteine der modernen Physik gelten könne. Abschließend widmet sich der Autor der pythagoreischen Mathematik und der griechischen Astronomie, beginnend mit Thales v. Milet, die jeweils von vorgängigen ägyptischen und mesopotamischen Beobachtungen profitiert hätten und die dann, diese Beobachtungen weiterdenkend, dieselben Folgerungen gezogen hätten wie erst sehr viel später Kepler.
Den Abschluss des Bandes bildet der evaluierend-zusammenfassende Beitrag von Christoph Uehlinger, Laws from »Heaven« to »Nature«: Some Afterthoughts (162–171). Der Autor thematisiert zunächst das Naheliegende und Verbindende, dass nämlich die einzelnen in den Blick genommenen Kulturen »have a word to say on the pre-history of ›laws of nature‹ (and also on the pre-history of ›natural law‹« (164). In diesem Zusammenhang rückt dann selbstverständlich auch der Begriff von »Natur« selbst in den Fokus, der, so der Autor, in den Beiträgen eher in einem heuristischen Sinn verwendet werde, um die jeweils untersuchten Sachverhalte zu be­schreiben. Insofern sei es die Frage, so der Autor weiter, ob man das den Kulturen gemeinsame Gedankengut herauszustellen habe – oder nicht vielmehr die jeweiligen Besonderheiten: »Reading the papers of this book alongside each other, my impression is that beyond some obvious ancient Near Eastern commonalities and simil-arities that point to specific tradition-historical links […], most biblical text […] reflect a rather different world and world-view from their Mesopotamian cousins.« (167) Dies zeige sich insbesondere auch in dem Zusammenhang von Autorität und Wissen, wie er sich beispielsweise in Ausschließlichkeitsansprüchen polemischer biblischer Texte finden lasse, die der mesopotamischen Tradition weitgehend fremd seien. Der Autor macht dies auch an den jeweils dahinterstehenden, mehr oder minder ausdifferenzierten Gesellschaftsformen und deren Infrastrukturen fest. So trägt er an dieser Stelle ein wichtiges Moment ein, das bis dahin weniger in den Blick kam: den Ort, an dem das Wissen jeweils gepflegt und tradiert wurde. Er beschließt seine Evaluierung mit einem Blick auf die Perspektive der longue durée: »[…] there seems to be a movement of nascent science from ›heavenly laws‹ to ›laws of nature,‹ and from expressions of cosmic order in terms of laws and ordinances to an ever more physical, measuring and mathematical construction of ›nature‹. But one also sees another movement from astral divina-tion to astrology.« (171)
Insgesamt bietet das Sammelwerk einen sehr interessanten Einblick in die einschlägigen antiken Verhältnisbestimmungen von Kosmos, Welt und Gesellschaft. Es zeigt sich, dass die soziale und die kosmische Ordnung voneinander nicht getrennt sind und hinter dieser Ordnung letztlich eine göttliche Wirkursache gesehen wird. »Erkenntnis« bezieht sich daher stets auf die Offenlegung dieser Ordnung in ihrem Verhältnis zur geschaffenen Welt und somit auch zum Menschen. Diese Erkenntnisform entspricht zwar nicht dem Wissenschafts- oder Naturbegriff nach modernem Verständnis, bringt aber dennoch eine teils stärker, teils schwächer ausge prägte Systematisierung von gesellschaftlich relevantem Wissen hervor. Es dürfte vor allem der transkulturelle Austausch von Ge­lehrten aus Ägypten, Mesopotamien und schließlich auch Griechenland gewesen sein, der dieses kulturspezifische Wissen wechselseitig vermittelte und so auch, je länger, desto deutlicher, in die biblische Literatur einfließen ließ.