Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1188–1191

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Müller, Gernot Michael, Retsch, Sabine, u. Johanna Schenk[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Adressat und Adressant in antiken Briefen. Rollenkonfigurationen und kommunikative Strategien in griechischer und römischer Epistolographie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. VIII, 558 S. = Beiträge zur Altertumskunde, 382. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-067620-4.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Die Beschäftigung mit dem antiken Brief, seinen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen, markiert ein großes, vielseitiges und gewissermaßen unerschöpfliches Forschungsfeld. Antike Briefe werden längst nicht mehr nur als historische Quellen ediert, kommentiert und ausgewertet, sondern regen vielerlei Fragestellungen an. Das liegt vor allem daran, dass die Textsorte »Brief« jenseits ihres historischen Quellenwertes dehnbar und produktiv nutzbar ist. Sie gilt daher »als eine literarische Sammelgattung, die sich durch inhaltliche Kriterien nicht eindeutig definieren lässt« ( Vincenzo Damiani, 49). Die Formenvielfalt von Briefen, ihre kommunikative Funktion sowie ihre literarische Gestaltung mit den verschiedenen Möglichkeiten der Selbststilisierung von Briefeschreibern geben Anlass zu zumeist autorenbezogenen Studien zu Briefautoren und deren realen oder fiktiven Adressaten in der griechisch-römischen Literaturgeschichte. Der vorliegende Band enthält, ohne allerdings den Faktor Autorenliteratur explizit ins Feld zu führen, 18 Einzelstudien, die, wie es der Titel des Bandes angibt, gleichwohl in be­sonderer Weise dem Verhältnis von »Adressat und Adressant« nachgehen.
Der Sammelband basiert auf einer Tagung, die im Juni 2016 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt stattfand. Nach Beschreibung durch die Herausgeber des Bandes (Gernot Michael Müller/Sabine Retsch/Johanna Schenk, 1 ff.) verfolgte die Tagung – und somit der daraus hervorgegangene Band – das Ziel, »in exemplarischen Fallstudien aus interdisziplinärer Perspektive die […] kommunikativen Strukturen und Strategien des antiken Briefs herauszuarbeiten, wobei insbesondere die textinternen Größen ›Adressat‹ und ›Adressant‹ im Interaktionsraum des Briefs im Zentrum des Analyseinteresses standen« (11). Der Band nimmt zu­gleich auch das Konzept des literarischen self-fashioning auf: Es war »zu untersuchen, inwieweit die in der Forschung bereits hinlänglich herausgearbeitete Verwendung von Briefen für das self-fashioning ihres Autors auch über die textinterne Modellierung des Adressaten realisiert werden kann« (11 f.). Gerade an diesem Punkt wären verschiedene Anknüpfungen an interdisziplinär erzielte, diesmal von Seiten der neutestamentlichen Wissenschaft initiierte Forschungsbeiträge möglich und nützlich gewesen (s. u.).
Der zeitliche Bogen, der in den in diesem Band versammelten Beiträgen gespannt wird, reicht von den Lehrbriefen Epikurs (Jan Erik Heßler, 27 ff.) und den Widmungsbriefen antiker Mathematiker im 3. Jh. v. Chr. (im Beitrag von Vincenzo Damiani, 53 ff.) bis zu prominenten Briefeschreibern im poströmischen Gallien des 5./6. Jh.s – Faustus von Riez und Ruricius von Limoges (Gernot Müller, 453 ff.) sowie Avitus (Johanna Schenk, 497 ff.). Der zeitliche Bogen schließt eminente (Brief-)Autoren wie Horaz (Johannes Zenk, 159 ff.), Libanios (Christian Fron, 409 ff.) und Symmachus (Tabea L. Meurer, 429 ff.) ein. Besondere Bedeutung misst der vorliegende Band – berechtigterweise – den Briefeschreibern Cicero (Sabine Retsch, 71 ff.; Tobias Dänzer, 95 ff.) und Plinius (Thorsten Fögen, 207 ff.; Margot Neger, 233 ff.) bei.
Ein Beitrag oder Beiträge zum Briefeschreiber »Paulus« und seinen authentischen Schreiben dagegen fehlt/fehlen, was angesichts dessen, dass die Herausgeber des Bandes in ihrer Einleitung selbst betonen, welch große Bedeutung den Briefen »im frühen Christentum« ausgehend »von den Schreiben des Apostels Paulus« zukam (4), schmerzt. Zwei neutestamentliche Beiträge befassen sich mit dem Kolosserbrief (Andrea Taschl-Erber, 279 ff.) und der Johannesapokalypse unter epistolographischer Perspektive (Stephan Witetschek, 329 ff.) – diese beiden Beiträge bilden den Forschungsstand ab, sind aber, aus meiner Sicht wenig sinnvoll, in einer Rubrik »VI. Biblische Verwendungsweisen des Briefs« untergebracht: Denn entweder hätten in einer solchen Rubrik auch Briefformen, die in der LXX und benachbarten frühjüdischen Schriften begegnen, mitaufgenommen werden müssen, oder die beiden neutestamentlichen Beiträge wären besser einer größeren Rubrik »frühchristliche Epistolographie« zugewiesen worden. Eine solche Rubrik existiert als Rubrik VII. (»Ziele brieflicher Kommunikation im Frühen Christentum und bei den Kirchenvätern«), wo Beiträge zu Cyprian ( Eva Baumkamp, 359 ff. – besonders zu Ep. 67) und Hieronymus (Marie Revellio, 381 ff.) zu finden sind.
Einige Beiträge des Bandes greifen über den »Brief« hinaus und beleuchten in anregender Weise, welche Funktion Briefe im Wechsel- oder Zusammenspiel mit anderen Textsorten haben, so etwa der Historiographie (am Beispiel von Caesar und Sallust: Martin Stöckinger, 123 ff.) oder den Silvae des Statius (Gregor Bitto, 181 ff.), oder, wie sich der Prosaschriftsteller Lukian bei seiner Textgestaltung faktisch epistolarer »Fassaden« und »Kommunikationsstrukturen« bedient (Markus Hafner, 253 ff., hier 254). Der vorliegende Band zeigt neben der Formen- auch die Themenvielfalt an, die die Briefforschung inspiriert: Briefe begegnen im Rahmen von Philosophie und Wissensvermittlung, im Rahmen von Geschichts- und Zeitdeutung oder als Träger und Gestalter von Bildungsdiskursen.
Die Epistolographie-Forschung ist also angesichts des Formen- und Themenreichtums ein überaus geeignetes Feld für inter- oder transdisziplinären Austausch aller Fächer, die mit der Antike und ihrer (Brief-)Literatur befasst sind (besonders Papyrologie, Alte Geschichte, Klassische Philologien, neutestamentliche Exegese, Patristik). Der vorliegende Band sucht dieses Potential antiker Briefe vornehmlich in Hinsicht auf die literarische Gestaltung von »Kommunikationsstrukturen«, »Rollenkonfigurationen« und der »Konstruktion von Dichterpersona« – um nur einige Schlaglichter aus den insgesamt neun Rubriken, denen die Einzelbeiträge in nicht immer überzeugender Weise (s. o.) zugewiesen sind, zu wählen, produktiv freizulegen. Dabei wird insgesamt in gelungener Weise deutlich, dass Briefe nicht nur weit mehr sind als historische Quellen, sondern auch über verschriftlichte Gesprächshälften, Mittel der Distanzüberwindung (so z. B. 151) oder »Reden« (so z. B. 123 ff.) hinausgehen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird die neutestamentliche Briefforschung noch einmal überdenken müssen, wieweit besonders der rhetorical criticism (im Bereich der Paulusbriefforschung) eine suffiziente Wahrnehmung und Interpretation des Phänomens »Briefeschreiben« im frühesten Christentum ermöglicht oder nicht eher auch zu Engführungen geführt hat. So fordert der Band insgesamt – zu Recht – die gesonderte literarische und literaturgeschichtliche Betrachtung und Würdigung von Briefen ein und gibt dazu im Einzelnen viele instruktive Anregungen, die hier leider nicht alle genannt werden können.
Dass die Wahl der teils aus funktionalen, teils aus historischen Gesichtspunkten benannten Rubriken letztlich nicht überzeugt, habe ich schon vermerkt. Auch, dass bei einem dezidiert interdis-ziplinären Projekt (11) ein Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger für die Leser hilfreich gewesen wäre, lässt sich kritisch bemängeln. Grundsätzlicher und in Ergänzung dessen, was oben schon gesagt wurde, indes fallen die aus Sicht einer Neutestamentlerin formulierten fachlichen Anfragen an den Band und seine Forschungsfrage[n] aus: Paulus ist im vorliegenden Band als authentischer Briefeschreiber nicht präsent (s. o.) – dabei ließe sich am Briefautor Paulus vieles von dem zeigen (und es wurde auch schon öfter gezeigt!), was etwa für Plinius und die Konstruktion seines »Brief- Ich« (z. B. 7) in Anspruch genommen wird. Auch scheint mir die Wahrnehmung dessen, was im Bereich der neutestamentlichen Briefforschung geschieht, gelinde gesagt insgesamt verkürzt dargestellt: Wer im Fach liest heute, d. h. mehr als 20 Jahre nach H.-J. Klauck (1998), die neutestamentlichen Briefe als »theologische Quelle« (so 9), statt von vornherein ihre Epistolarität angemessen in den Blick zu nehmen? Dass also die neutestamentliche bzw. frühchristliche Briefforschung, von der mit A. Deissmann einmal wesentliche Impulse für die antike Epistolographie-Forschung als Ganze ausgegangen sind, im vorliegenden Band wenig, verkürzt und ohne nennenswerte eigene produktive Perspektive auf den gemeinantiken Forschungsdiskurs präsentiert wird, mindert den Wert des interdisziplinären Projektes und wirft zugleich – selbstkritisch gesagt – die Gegenfrage auf: Warum gelingt es der neutes-tamentlichen Wissenschaft offenbar nicht besser, im Rahmen der Briefforschung (und darüber hinaus) als genuine Fachdisziplin im Konzert der Altertumswissenschaften verstanden und berücksichtigt zu werden? Hier wäre – von beiden Seiten – mehr Verständigung gefragt.