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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1127–1129

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Loose, Anika

Titel/Untertitel:

»Und dann hat der denen nicht direkt eine Antwort gegeben …«. Grundschulkinder theologisieren über Jesu Gleichnis von der Senfpflanze.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 241 S. m. 3 Abb. u. 11 Tab. = Religionspädagogik innovativ, 29. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-17-036414-1.

Rezensent:

Mirjam Zimmermann

Wie rezipieren Kinder das Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,30–32 parr.), das Anika Loose als »Gleichnis von der Senfpflanze« bezeichnet, und welche Vorstellungen verbinden sie davon ausgehend mit dem Reich Gottes? In der von der Evangelisch-Theologischen Fa­kultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommenen Arbeit wird ausgehend von exegetischen Untersuchungen zur biblischen Überlieferung (Mk 4,30–32; Mt 13,31–32; Q/Lk 13,18–19) eine qualitativ-empirische Rezeptionsstudie aus dem schulischen Religionsunterricht vorgestellt, die diese Forschungsfragen beantworten möchte. Damit wird im Unterschied zu verschiedenen vorliegenden Beiträgen im Kontext der Kindertheologie/-exegese einerseits das häufig bemühte häusliche bzw. gemeindliche Um­feld verlassen und im Zug der Ausweitung und angestrebten Verobjektivierung der Ergebnisse die religiöse Sozialisation der Kinder je individuell erfasst und reflektiert, andererseits explizit das Feld der Kinder exegese theoretisch ausgeleuchtet.
Wie bei vielen kindertheologischen Qualifikationsschriften er­läutert die Vfn. zu Beginn, ob man Kindertheologie als Label, Programm, Praktik oder eher als Habitus fassen soll. Sie kommt selbst zu dem Ergebnis, dass es sich um ein »didaktisches Konzept« handelt, das »Kinder zum Operieren mit zentralen theologischen Be­griffen an[leitet]« (so auch in der 1. These [217]). Anschließend wird die Entwicklung der Kindertheologie kurz nachgezeichnet und das Theologieverständnis als »Form der Laientheologie« bestimmt, »die über das Potential verfügen soll, die wissenschaftliche Theologie anzuregen.« (22) Im Kontext der Kindertheologie wird dann die Kinderexegese verortet (41–56), ein Begriff, auf den gerade traditionell arbeitende Exegetinnen und Exegeten häufig sehr kritisch reagieren. Dieser wird nur sehr knapp problematisiert, aber nicht durch »Eisegese« als grundlegende Technik der Hermeneutik ersetzt. Die Vfn. formuliert hier vorsichtiger und durchaus positiv konnotierend: »Kinderexegese beinhaltet Eisegese«, d. h. Hineininterpretationen. Die Kinder »überschreiten dabei den Text« (These 8 [221]).
Gründlich wird von der Vfn. der biblische Text Mk 4,30–32 exegetisch erschlossen, indem auf der Basis einschlägiger Literatur der Text übersetzt, Bildfeld, Thema und bildinterne Pointen be­stimmt, die Leserlenkung betrachtet und die Bildfeldtradition reflektiert werden. Angesichts der engen Anlehnung an Kurt Erlemann hinsichtlich der Methodik der Gleichnisinterpretation bleibt unverständlich, warum die Vfn. nicht die neueste und durchaus weiterentwickelte Publikation von Erlemann zum Thema (Fenster zum Himmel: Gleichnisse im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 2017) einbezogen hat. Mit Erlemann versucht sie auch, »Die Sache des Gleichnisses« (hier: das Reich Gottes) in fünf Aspekten differenziert zu erfassen.
Obwohl in 3.1 knapp theologisch (»Die beiden Fragen und der soziative Plural machen deutlich, dass die Rezipientinnen und Re­zipienten des Gleichnisses dazu eingeladen sind, sich am Verstehens- und Reflexionsprozess über das Reich Gottes zu beteiligen.« [57]) und in 4.4.1 anhand des häufigen Vorkommens im Lehrplan didaktisch die Auswahl des Gleichnisses begründet wird, ist mir nicht deutlich geworden, warum gerade dieser Text ausgewählt wurde, wenn es eben nicht (exemplarisch) auch um das kindliche Verständnis von Gleichnissen (ein Thema, zu dem ja schon um­fangreiche Forschungen aus der Religionspädagogik vorliegen) oder um Vorstellungen vom Reich Gottes, sondern ja eben grundsätzlicher um (inhaltliche und formale) Textauslegung der bzw. mit Kinder(n) gehen soll.
Ansonsten wird das Forschungsdesign der Studie im vierten Kapitel umfassend und sorgsam begründet – vorbildhaft für weitere, ähnlich arbeitende Untersuchungen. Reflektiert werden hier der qualitativ-empirische Zugang, die Auswahl des Erhebungsorts Grundschule und der konkreten Schulen, die Methode der Erfassung der »religiösen Erfahrungsprofile« der 20 interviewten Kinder, die Rahmenbedingungen und die Leitfragen der Interviews u. a. Die Interviews sind, so wird an dieser Stelle deutlich, »auf Empfehlung der Lehrkraft« (212) im Anschluss an manche Vorinformation im Unterricht als »Hinführung zum Gleichnis« (4.4.4) entstanden und insofern inhaltlich auch in diesem Kontext zu deuten. Dies übersieht die Vfn. nicht (vgl. 6.4 Welche Impulse aus den Kreisgesprächen wurden aufgegriffen? [212]), wenngleich das Vorgehen damit allerdings klar von der Erfassung einer relativ unbeeinflussten »Auslegung DER Kinder« abweicht.
Eine feinsinnige kategorienbasierte Auswertung mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse wird im fünften Kapitel dargelegt, indem induktive und deduktive Kategorien entwickelt und ein nachvollziehbarer Codierleitfaden präsentiert werden. Die Ergebnisse erlauben Aufschlüsse darüber, wie Kinder im Alter von acht bis neun Jahren begründen, warum das Gleichnis erzählt wurde, wie sie beim Wachstumsaspekt einen Bezug zum Reich Gottes herstellen (vgl. 145 ff.), mit welchen konkreten und transzendenten Deutungen die »Vögel des Himmels« bedacht werden (151 ff.) und welche Eigenschaften die Kinder mit dem Reich Gottes verbinden (Unsichtbarkeit, Zeit- und Raumaspekte) und mit was aus ihrer Lebenswelt sie es vergleichen. Die strukturierte inhaltsbezogene Darstellung wird hilfreich durch vier vertiefte Einzelfallinterpretationen ergänzt, um »die Spannbreite der Ergebnisse möglichst authentisch zu präsentieren« (168).
Eine Ausweitung über die Inhaltsebene hinaus auf die Frage, welche formalen Textauslegungskompetenzen und welche Sprachfähigkeit die bzw. einzelne Kinder (z. B. aus den Einzelfallinterpretationen) hier (nicht) zeigen, wäre hinsichtlich der Ausgangsfrage gleichsam spannend gewesen. Hier hätte die Arbeit von Eva C. Albrecht (Biblische Textauslegung im Kontext der Kindertheologie, Kassel 2019) gute Anknüpfungsmöglichkeiten geboten.
Die Konzentration auf die Inhaltsebene könnte als eine Konsequenz der Engführung der Gleichnismethodik gesehen werden, die im Anschluss an Jülicher und Erlemann die Trennung von Bild- und Sachhälfte fortschreibt (s. o.), während die Mehrheit der Gleichnisforschung im Anschluss an Ricœur, Funk oder Weder die Abstraktion einer ›Sache‹ jenseits des Textes metapherntheoretisch für unzulässig hält.
Im abschließenden sechsten Kapitel wird u. a. die erst banal klingende These »Kinderexegese weist Parallelen zur Auslegungsgeschichte auf« (These 9 [221]) mit interessanten Ergebnissen der Studie veranschaulicht und aufgezeigt, wie durch die kreativen Deutungen der Kinder das Auslegungsspektrum z. B. in der Ausführung des »Schöpfungsgedankens« oder in Bezug auf »Motive für die Erzählung« erweitert wird. Als wichtiger Beitrag der »Kinderexegese«, einem eher vernachlässigten Teilaspekt der Kindertheologie, sei dieses Buch zur Lektüre deshalb unbedingt empfohlen.