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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1117–1119

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meißner, Wilfried

Titel/Untertitel:

Erwachsenentaufe im Zeitalter von Konfessionslosigkeit. Eine qualitativ-empirische Untersuchung zu ihrem lebensgeschichtlichen Zustandekommen und ihrer Bedeutung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 397 S. Kart. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-05886-0.

Rezensent:

Peter Frühmorgen

»Warum sich Erwachsene aus Deutschland-Ost taufen lassen«– mit dieser Frage beschäftigt sich die Dissertation von Wilfried Meißner, die an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg eingereicht und von Michael Domsgen (Halle) und Frank M. Lütze (Leipzig) betreut wurde.
Die Relevanz der Forschungsfrage könnte man – wie auch M. einleitend bemerkt (11) – kleinreden, wenn man bedenkt, dass es sich hier um die Untersuchung eines doch sehr exotischen Phänomens handelt: Schließlich wagen den Schritt zur Erwachsenentaufe in den östlichen Bundesländern im Bereich der EKD weniger als 5.000 Menschen jährlich, während der größte Teil der drei Mio. Kirchenmitglieder – meist unhinterfragt – über die Kindertaufe zur Kirche kam. Und schließlich ist anzumerken, dass der ganz überwiegende Teil der 16 Mio. Einwohner Ostdeutschlands diesen Schritt nicht vollzieht. Doch führt die Beschäftigung mit den Motiven jener, die sich im Erwachsenenalter taufen lassen, nicht einfach zu einem besseren Verständnis des Taufbegehrens einer überschaubaren Gruppe, sondern – und das ist einer der vielen ge-winnbringenden Impulse aus der Lektüre dieser Arbeit – zu einer Auseinandersetzung mit der lebensgeschichtlichen Relevanz der Kirchenzugehörigkeit in einem überwiegend konfessionslosen Um­feld. Die Ergebnisse der Studie können deshalb Theologen wie kirchlichen Verantwortlichen gleichermaßen zu denken geben, weil sie deutlich machen, wo die Relevanz von Kirche in der heutigen Zeit liegen kann.
Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil wird das methodische Vorgehen begründet und erläutert (15–73). Die Studie grenzt sich inhaltlich wie methodisch von jenen vorliegenden Studien zur Taufmotivation Erwachsener ab, die von klaren Vorstellungen über Motive der Kirchenzugehörigkeit ausgehen und diese – so wie die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen – »abfragen« (17–31). Der qualitativ-empirische Ansatz der vorliegenden Studie erlaubt es dagegen, Gründe für die Entscheidung zur Taufe aus dem Datenmaterial heraus zu rekonstruieren und diese biographisch zu verorten. Damit gehen die Ergebnisse der Studie weit über den Erkenntnisstand bisheriger Untersuchungen hinaus: Sie erlauben einen Einblick in lebensgeschichtliche Zusammenhänge erwachsener Christen, deren überwiegend konfessionsloses Um­feld den Entschluss zur Taufe meist begründungspflichtig macht.
Konkret führte M. 20 biographisch-narrative Interviews mit heute evangelischen Christen, die sich im Erwachsenenalter zur Taufe entschlossen hatten und die von ihrer bisherigen, konfessionslosen Sozialisation her diesen Schritt nicht erwarten ließen. In den Interviews wird der persönliche Referenzrahmen der Befragten deutlich, aus dem heraus die Taufmotivation nachvollzogen wird. Die Auswertung des Datenmaterials erfolgt entsprechend der sogenannten objektiven Hermeneutik (60–71): Damit können in den biographischen Erzählungen Sinnstrukturen identifiziert werden, die über den Einzelfall hinausreichen: Signifikante biographische Ereignisse, die sich in eine zeitlich-sachliche Reihenfolge bringen lassen, bilden in ihrer Gesamtheit – also über alle Interviews hinweg – ein sogenanntes kumulatives Prozessmodell mit mehreren Entwicklungsschritten (72 f.); der reale Einzelfall enthält für ge­wöhnlich freilich nur einige Schritte daraus (73).
Im umfangreichen zweiten Teil (77–363) werden diese Entwicklungsschritte, die zu einer Erwachsenentaufe führen können, in vier Bereiche eingeteilt und jeweils eingehend anhand des Datenmaterials illustriert. Zu den interviewten Personen finden sich jeweils biographische Hinweise sowie relevante Interviewausschnitte, die ausführlich analysiert und kommentiert werden. Wenngleich die Darstellung teilweise den Eindruck einer Aneinanderreihung der Einzelfälle hinterlässt, so ergibt sich dennoch – entsprechend der Auswertungsstrategie – ein kohärentes Bild zur Taufmotivation der befragten Erwachsenen.
Im ersten Bereich werden »desintegrative Erfahrungen bezüglich des säkularen Sozialisationshintergrundes« (80–147) beschrieben. Die Interviewten erleben, dass das bisherige, in der familiären Sozialisation vermittelte säkulare Orientierungsmuster im Leben irgendwann nicht mehr zu Tragen vermag. Kurzum: Das Individuum verliert nach und nach den Glauben an eine säkulare Weltdeutung – und findet in einer christlich-religiösen Orientierung eine passendere Deutung.
Wie im zweiten Bereich »Erfahrungen individueller religiöser Neuausrichtung und Vereindeutigung« (148–228) entfaltet wird, kommt es dabei nicht einfach zu einer Überwindung des säkularen Weltbildes durch die Religion, sondern vielmehr zu einer immer stärkeren Konturierung der diffus vorhandenen Vorstellungen über Religiöses. In Umkehrung der Beobachtung von Säkularisierungsprozessen könnte man sagen: Auch die Hinwendung von der säkularen zur religiösen Orientierung erfolgt nicht sprunghaft, sondern ist Resultat einer zunehmenden Entfremdung von der bisherigen säkularen Option, die zudem von schlechten Erfahrungen beschleunigt wird.
Befördert wird diese Entwicklung, wenn – wie im dritten Be­reich (229–315) dargestellt – konkrete positive und lebensdienliche Begegnungen mit der Kirche zustandekommen. Die Taufe kann dann mit Blick auf die eigene Lebensgeschichte dringlich werden (vierter Bereich, 316–363), weil die erlebte kirchliche Gemeinschaft die eigene Kirchenzugehörigkeit als logische Konsequenz erscheinen lässt. Die Erwachsenentaufe markiert einen biographischen Kulminationspunkt, der nicht am Ende eines Initiations-, sondern eines Demarkationsprozesses (382) steht – einer Abgrenzung von nicht mehr tragfähigen Orientierungsmustern, die in einer langwierigen Auseinandersetzung von einem alternativen Deutungsangebot überwunden wurden. Demnach lautet ein zentrales Resümee dieser Arbeit, das sich im zusammenfassenden dritten Teil (365–383) findet: »Erwachsenentaufen […] sind in Ostdeutschland das Resultat von biographischen Erfahrungskumulationen, die in grundsätzlicher Weise mit dem Phänomen des sich Durchkämpfens durch das Leben unter ungünstigen Bedingungen zusammenhängen« (381).
M. erzählt und plausibilisiert anhand der Interviews überzeugend, warum sich Erwachsene aus Deutschland-Ost taufen lassen und welche biographischen Entwicklungsschritte hierfür vorliegen können. Diese erfahrungsgesättigte Sichtweise auf das Christwerden stellt damit auch die theologische Bedeutung dieser Studie dar, die weit über die religions- und kirchensoziologisch orientierte Fragestellung hinausreicht. Die theologische Reflexion ist nicht mehr Aufgabe der vorliegenden Arbeit, findet im empirischen Material aber viele inspirierende Anknüpfungspunkte, zum Beispiel für die Ekklesiologie, vor allem aber für die Praktische Theologie: Kirchenzugehörigkeit erwächst hier nicht einfach aus einer zufälligen Konversion, durch den Besuch einer religiösen Feier oder eines spirituellen Events, sondern gründet auf einem »erkämpften« Glauben, um den immer wieder gerungen werden muss. Die im Erwachsenenalter Getauften blicken aus der Perspektive des Christseins auf eine prägende Lebensgeschichte zu­rück, in der sie nicht getauft waren (381) – und dies auch lange Zeit nicht als Defizit empfanden: Von solch einer Erfahrung können auch kirchliche Glaubensgestalten viel lernen.