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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1115–1117

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kubik, Andreas

Titel/Untertitel:

Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion. Ein praktisch-theologisches Paradigma der Spätmoderne.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XIII, 399 S. = Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, 23. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-057612-2.

Rezensent:

Jasmine Suhner

Lesen und Deuten der »Zeichen der Zeit«: eine Aufgabe, der sich das Christentum und die christliche Theologie seit ihren Anfängen widmen. Angesichts des »kulturellen Aufwärtstrends« (3) steht diese Aufgabe theologischer Kulturwahrnehmung vor einem spe­-zifisch modernen Problem: Infolge des Aufkommens außertheo-logischer Religionsdeutung und religionssoziologischer Entwicklungen existieren, ja konkurrieren zahlreiche heterogene kulturhermeneutische Ansätze neben- bzw. miteinander. Wo und wie kann oder muss sich die Theologie in diesem vielstimmigen Konzert (post-)moderner Religionsdeutungen verorten? An welche Adressaten will oder soll sie sich wenden? »Bleiben ihre Deutungen ein innertheologisches oder gar innerkirchliches Geschäft, oder richten sie sich mit einem Allgemeinheitsanspruch an die weitere Öffentlichkeit?« (4) »[W]en will man eigentlich wovon überzeugen?« (36)
Diesen Fragestellungen widmet sich Andreas Kubik in seiner Habilitationsschrift. Er verfolgt dabei weder ein begriffsgeschichtliches noch ein apologetisches Interesse. Vielmehr strebt er die fundierte Klärung der Hintergründe, das Aufzeigen von Implikationen und »die Erhellung des eigentlichen theologischen Ge­wichts einer theologischen Kulturhermeneutik« (39) an: Was tut die Theologie, wenn sie Kulturerscheinungen theologisch interpretiert – und welche Folgeprobleme sind dann zu erwarten? K. zielt hiermit, in metatheoretischer Perspektive, auf die Erwägung eines theologischen Konzepts als solches ab, zielt insofern, wenn man so will, durchaus auf das Ganze der Theologie.
Sein ebenso umfassendes und ehrgeiziges wie theologisch es­sentielles Vorhaben beginnt K. mit einem kurzen Blick auf das Feld gegenwärtiger Ansätze theologischer Kulturhermeneutik. Drei Po­sitionen, die »in konzeptueller Hinsicht als repräsentativ für diese praktisch-theologische Richtung insgesamt stehen« (13), untersucht er hinsichtlich ihrer kulturhermeneutischen Sachanliegen: Hans-Günter Heimbrock, von dem aus die Praktische Theologie sich als »Wahrnehmungswissenschaft« begreifen müsse; Albrecht Grözinger, bei dem die Praktische Theologie als Ganze zur »Kunst der Wahrnehmung« (23) wird; Wilhelm Gräb, der als eigentlicher Statthalter des Begriffs Kulturhermeneutik im Feld der Theologie angesehen wird. K. deutet seinen kurzen Rundgang durch diese Konzeptionen mit Recht als Beweis dafür, dass die Theologische Kulturhermeneutik als ein eigener Ansatz in der gegenwärtigen Praktischen Theologie zu betrachten ist: ein Ansatz aber, für den es bis anhin noch keine umfassende Theorie gibt. Eine solche Theorie vorzulegen, ist das gesetzte Ziel.
Hierfür geht K. im Folgenden wesentlich textrekonstruktiv vor: Ausgehend von der Feststellung, dass sich konkrete theologische Kulturhermeneutik im empirischen Forschungsfeld bewegt, studiert K. die Programmatik empirischer Religionsforschung zu­nächst an ihren Anfängen: beim Entwurf Paul Drews’ um 1900. Als zentral an der Drews’schen Forschungsrichtung markiert K., dass Drews selbstverständlich von einem gesellschaftlichen Interesse an religionskundlichen Forschungen ausgeht. Bemerkenswert ist auch, dass Drews die religiöse Volkskunde – inklusive der wissenschaft-lichen Erforschung außerkirchlicher Religiosität – als genuin theologische Aufgabe erachtet, »was ihn bis kurz vor den Gedanken einer theologischen Kulturhermeneutik« (82) geführt hat.
Einen zweiten Fokus richtet K. auf die kulturtheologische Basis einer theologischen Kulturhermeneutik: Detailliert zeichnet er die Tillich’sche Hermeneutik nach. Angesichts der Tatsache, dass auch Tillich keinerlei Zweifel an einer Kulturhermeneutik als einer ge­nuin theologischen Aufgabe gelassen hat, gelangt K. zum Schluss, dass – vor den genannten gegenwärtigen Fragestellungen an die Theologie – hier eine differenzierte Klärung ihrer wissenschaftstheoretischen Verortung als Theologie sowie als Praktischer Theologie notwendig sei. Hier zeigt sich denn auch einer der theologischen Brennpunkte der vorliegenden Arbeit. Interessant sind K.s Rückfragen an Tillich, von denen aus er den systematischen Fokus sämtlicher weiterer Kapitel entwirft:
Da die Verstehenslehre bei Tillich vor allem an der Geschichtshermeneutik orientiert sei, bedürfe es deren Erweiterung zu einer Kulturhermeneutik: Die Theologie profitiert davon, »ihrerseits die Vermittelbarkeit mit einer kulturwissenschaftlich verfahrenden Hermeneutik zu suchen« (40). Hierfür lenkt K. das Augenmerk auf die Spätphilosophie Wilhelm Diltheys. Mit Diltheys Philosophie schärft er den Blick dafür, »worum es im Verstehen von Kultur eigentlich geht«: Es gilt, die Forderung ernst zu nehmen, »dass die Eigenintention einer kulturellen Erscheinung hermeneutisch erst einmal ganz ernst genommen werden muss, bevor sie theologisch ›verbraucht‹ wird« (225).
Einen weiteren wichtigen, bei Tillichs Kulturhermeneutik noch nicht thematisierten Aspekt markiert K. mit Michael Moxter: »eine Hermeneutik der ›Kultur als Lebenswelt‹« (185). Um eine phänomenologische Grundierung der theologischen Kulturhermeneutik anzugehen, lenkt K. das Augenmerk auf Husserls Spätwerk, die Krisis-Schrift. Damit nimmt er die entscheidende theoretische Problematik einer theologischen Kulturhermeneutik »impliziter Reli-gion« in den Blick: »Was berechtigt die Theologie denn überhaupt, […] den Religionsbegriff anzuwenden, wenn doch – hermeneutisch gesprochen – nichts an dem Phänomen darauf hinzuweisen scheint, dass es ›religiös‹ ist?« (269) K. entfaltet die phänomenologische Perspektive als eine diese Frage klärende: »›Religiös‹ ist keine Qualität des Gegenstands, sondern eine Qualität der Intentionalität, mit der sich das Bewusstsein auf seinen Gegenstand richtet.« (269 f.)
In einem letzten Diskussionsbogen geht K. jenes Dilemma an, »das jeder kulturhermeneutischen Theologie […] innewohnt«, und führt dieses mit beinahe mathematischer Klarheit aus: Eine Hermeneutik gründet per se auf der Beschäftigung mit Fremdem. Als intrakulturelles Unternehmen, das sich auf die Lebenswelt bezieht, deutet die theologische Kulturhermeneutik aber »das Eigene, an deren Aufbau […] das Hermeneutik treibende Subjekt qua [ihrer] Intentionalität selbst beteiligt ist« (279 f.). Anhand klassischer Texte zur Fremdheitstheorie (Simmel, Kristeva) beleuchtet K. dieses Spannungsfeld phänomenologisch-meditativ.
Die auf diese Weise aus unterschiedlichen Blickwinkeln differenziert entfalteten Voraussetzungen und Implikationen einer Theorie theologischer Kulturhermeneutik lässt K. in die Skizze einer materialen Praktischen Theologie im Lichte theologischer Kulturhermeneutik münden. Wenig erstaunt hier seine Feststellung, dass im Kanon der praktisch-theologischen Teildisziplinen die Religionspädagogik diejenige sei, die sich bisher am stärksten im Licht theologischer Kulturhermeneutik entwickelt habe: Die moderne allgemeine Pädagogik entwickelt hier – als von Beginn weg wertbasiertes und auch die Religion(en) umfassendes Unternehmen – auch Lernziele religiöser Bildung. Umgekehrt sei die Übernahme mancher allgemeinpädagogischer Prinzipien in der Religionspädagogik als eine bewusste theologische Entscheidung einzustufen. Die dadurch entstehende Kooperation und zugleich Gratwanderung bedürfe nicht der Auflösung, aber der permanenten Reflexion. Nicht zuletzt nennt K. in diesem Zusammenhang auch die Medien als religiöse Sozialisationsinstanz.
Insgesamt gelingt es K. in beeindruckender Weise, anhand mit hoher Gründlichkeit ausgeführter vielperspektivischer Theorie-implikationen theologischer Kulturhermeneutik sowie anhand scharfsinnigen Benennens der Absturzgefahren kulturhermeneutischer Höhenflüge eine theologische Selbstbeschreibung des Verhältnisses von Kultur und Religion darzulegen, die sich auf das Gesamt der »impliziten Religion« abbilden lässt. Dass seine Sprache dabei nicht nur von großer Sorgfalt und Präzision zeugt, sondern auch deutliche Freude an Wortspielen verrät – der schmale »Grat zwischen Forschung und Feuilleton« (271) – oder nicht zuletzt manche Anspielungen enthält – etwa auf den Arbeitsort K.s, Osnabrück: »Steckenpferdreiterei« (273) –, macht die Lektüre über den Inhalt hinaus zusätzlich zu einem Lesevergnügen.