Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1114–1115

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Korsch, Dietrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die heilende Kraft des Sinns. Viktor E. Frankl in philosophischer, theologischer und therapeutischer Betrachtung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 170 S. m. 14 Abb. u. 1 Tab. = Religion und Gesundheit, 2. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-17-032491-6.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Viktor E. Frankl führte die Dimension des Sinns in die Psychotherapie und Psychiatrie ein und nahm an, dass der Mensch aus Leib, Seele und Geist konstituiert ist. Der Geist als das eigentlich Unabhängige von Leib und Seele ist in der Lage, vermöge des Sinns, den der Geist erfassen und ausdrücken kann, einem psychischen Leiden zu begegnen. Insofern ist nicht nur die theologische, seelsorgerliche und therapeutische Dimension in den Blick genommen, sondern auch die philosophischen Implikationen des Sinns bzw. des Begriffs Sinn.
Drei Beiträge des von Dietrich Korsch herausgegebenen Buches befassen sich mit Frankls Logotherapie und Existenzanalyse, drei Beiträge reflektieren anhand des Begriffs Sinn die theologische Dimension.
Alexander Batthyány, der den Viktor Frankl Lehrstuhl an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein innehat und Vorstand des Viktor Frankl Instituts in Wien ist, zeichnet Frankls Weg zur Logotherapie und Existenzanalyse nach. Dessen Lehrer Freud und Adler waren nicht bereit, den geistigen Anteil des Menschen als etwas anzuerkennen, das zwar von der psychisch-physischen Erkrankung betroffen, aber nicht in das Krankheitsgeschehen involviert ist. Der geistige Anteil des Menschen kann von der Erkrankung relativ unabhängig agieren (Selbstdistanzierung) und frei von der Belastung eine Position be­ziehen, die sich sozusagen über die Erkrankung stellt (Selbsttranzendierung) und somit die Gesundung beeinflusst. Der Mensch hat eine geistige Freiheit, die von psychischen Erkrankungen un­beeinflusst bleibt. Die Existenzanalyse sieht ihn als eine Person an, die grundlegend für ihr Dasein nach Sinn fragt. Die Logotherapie hilft diesem Willen zum Sinn, das Geistige in den Fokus zu stellen und sich daran wieder auszurichten.
Dietrich Korsch stellt das Ich bei Frankl als Schnittstelle von Philosophie, Religion und Therapie dar. Zunächst stellt er den gedanklichen Wegbereiter F. W. J. Schelling mit seinem System des transzendentalen Idealismus vor, in dem es auch um das Selbstbewusstsein des Ichs geht. Wie der Sinn so ist auch der »unbewusste Gott« nur transzendental aufzufassen. Denn Frankl hat, nachdem er bereits habilitiert war, eine philosophische Dissertation ge­schrieben: »Der unbewusste Gott«. Von der Darstellung des Ichs in der Psychoanalyse, der Existenzanalyse, der Philosophie und der Seelsorge her reflektiert Korsch Frankls Grundannahmen, inwieweit neben der physischen und psychischen Dimension des Menschen eine noetische Dimension konstituiert werden kann, die auf einem starken Ich beruht. Korsch gibt zu bedenken, ob das Ich nicht vielmehr eine instabile Größe ist.
Cornelia Richter bringt Frankl und Paul Tillich ins Gespräch anhand der prominenten Aussagen Ja zum Leben (Frankl) und Mut zum Sein (Tillich). Frankls Interesse an philosophischen, insbesondere existenzphilosophischen Fragen und Tillichs Interesse an Psychologie konvergieren im Sinnbegriff. Die Orientierung wirkt sich aus auf die Resilienzthematik, auf die religiöse Frage nach Gott, die sich nicht konfessionalistisch, sondern in der ureigenen Sprache jedes Ichs zeigen kann, und auch bei Tillich in der Aussage, der Sinn sei unbedingt.
Maike Schult stellt die Sinnfragen in der Seelsorge vor und würdigt Frankl als Impulsgeber der Poimenik. Zunächst macht sie den Leser mit einer beachtlichen Reihe von Publikationen bekannt, die sich diese Kategorisierung von Sinn nicht zu eigen machen wollen oder Religion als vermeintlichen Sinnproduzenten abweisen. Religion sei mehr als Sinn, zudem es in der Moderne zunehmend Sinnlosigkeitserfahrungen gebe. Schult fragt, wie damit die Logotherapie umgeht bzw. wie dieses Moment in ihrer Theorie verortet werden kann; wie die Theologie mit dem Sinnbegriff umgehen kann angesichts von entsprechenden theologischen (Sinn-)Begriffen wie Allversöhnungs- oder Rechtfertigungslehre.
Hans-Peter Kapfhammer, Professor für Psychiatrie und Psychotherapeut in Graz, fragt am Beispiel von traumatischen Erfahrungen, ob Sinn eine empirisch belastbare Kategorie in Psychiatrie und Psychotherapie ist. Denn Frankl war der Meinung, dass das Leben einen Sinn hat, den es auch im Leiden behält. Das kann angenommen werden bei Personen, die Traumatisierungen überwunden und in ihr Leben integriert ha­ben. Sogar eine posttraumatische Entwicklung kann zu einer be­sonderen persönlichen Reife führen.
Dieter Lotz, Professor für Heilpädagogik und Logotherapie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, stellt die Praxis der Logotherapie und ihre methodischen Aspekte dar, z. B. die Dereflexion und Paradoxe Intention, die Selbstdistanz, die Arbeit mit dem Wort und/oder mit dem Körper. In Anhang dazu wird eine kurze Darstellung der Logotherapeutin Magda Van Cappellen über die Wertimagination als Methode der Logotherapie geboten, wie einem Klienten wieder deutlich wird, welche Werte oder Potentiale er verstärkt leben möchte.
Die Beiträge heben ganz unterschiedliche Aspekte des Sinns bzw. des Begriffs Sinn hervor, sie ordnen sie ein oder reflektieren sie im Vergleich mit anderen Wissenskontexten. Obwohl alles anregend zu lesen ist, hinterlässt es bei mir den Eindruck, dass das, was Frankl als heilende Kraft des Sinns erkannt hat, in den Beiträgen nicht wirklich zum Tragen kommt. Reicht es aus, den Sinnbegriff als transzendentale Kategorie zu verstehen, wobei Sinn unverfügbar ist und sich demnach einstellen kann? Lässt sich mit solch einer G rundannahme therapeutisch arbeiten? Wie geht die Therapie damit um, dass das Eigentliche ihrer konkreten Therapie selbst unverfügbar und nicht zu instrumentalisieren ist? Wo bleibt die Freiheit jeder Person, die sich – so Frankl – für ein Ja zum Leben, ja sogar für den Sinn entscheiden kann und somit Verantwortung übernimmt?