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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1107–1109

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sautermeister, Jochen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche – nur eine Moralagentur? Eine Selbstverortung. M. Beiträgen v. P. Dabrock, H. Joas, U. H. J. Körtner, A. Schavan, E. Schockenhoff, M. Striet.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 158 S. Geb. EUR 18,00. ISBN 978-3-451-38321-2.

Rezensent:

Alexander Dietz

An der Frage, ob und ggf. wie profiliert sich die Kirchen öffentlich zu politischen Fragen äußern sollten, scheiden sich seit Langem die Geister. Im Jahr 2016 goss der Sozialphilosoph Hans Joas mit seiner kritischen Monographie »Kirche als Moralagentur?« Öl ins Feuer. Der Bonner Moraltheologe Jochen Sautermeister nahm dies zum Anlass, Reaktionen renommierter Theologinnen und Theologen (beider Konfessionen) in einem unbedingt lesenswerten Sammelband zusammenzufassen. Eingeleitet wird das Buch mit einem Text von Hans Joas, in dem dieser seine Kernthesen zusammenfasst. Abgeschlossen wird es mit einer Replik desselben auf die kritischen Anfragen. Auf diese Weise konnte ein tatsächlicher Diskurs abgebildet werden – spannend und auf hohem Niveau.
Hans Joas fordert in seinem grundlegenden Beitrag, dass sich die Kirchen angesichts von Krisenphänomenen (Bedeutungsverlust, Skandale) ernsthafte Gedanken darüber machen sollten, was sie eigentlich ausmacht. Er beobachtet, dass die Kirchen auf die Herausforderungen mit einer Moralisierung und Politisierung der christlichen Botschaft antworten, was er aus mehreren Gründen für den falschen Weg hält. So verfehle die Konzentration auf Moral den Charakter des Religiösen, da Moral wesenhaft eher restriktiv sei, während Religion wesenhaft eher leidenschaftlich und begeistert (und in diesem Sinn missionarisch) sei. Ebenso verfehle die Konzentration auf Moral den Charakter des Politischen, da sie erstens einer gesinnungsethischen Vernachlässigung der Komplexität und der Folgen politischer Entscheidungen Vorschub leiste, zweitens das Liebesgebot zur Rechtfertigung unkluger und ideologischer Positionen instrumentalisiere und drittens unliebsame politische Positionen – innerhalb der kirchlichen sowie der öffentlichen Debatte – auf illegitime Weise als unchristlich diffamiere.
Peter Dabrock stimmt in seinem Text Joas darin zu, dass Kirchen zur moralischen Abrüstung in aufgeladenen gesellschaftlichen Debatten beitragen sollten. Allerdings stellt er kritische Anfragen an Joas’ Kirchenverständnis sowie Moralverständnis. Aus der nicht moralisch erst zu verdienenden Identität der Kirche ergebe sich gleichwohl auch ein moralischer Auftrag. Moral sei keineswegs als rein restriktiv zu bewerten, sondern könne – wie gerade die christliche Tradition zeige – durchaus attraktiv wirken. Vor diesem Hintergrund solle Religion zur Ermöglichung von Politik und zur politischen Gesellschaftsgestaltung beitragen.
Eberhard Schockenhoff gesteht Joas zu, dass im politischen Handeln der Kirchen auch Gefahren von Fehlentwicklungen liegen, die im Begriff Moralagentur veranschaulicht werden. Jedoch versucht er am Beispiel der Flüchtlingspolitik zu zeigen, dass erstens die Kirchen Humanität und Solidarität einfordern und darum politisch Stellung beziehen müssten und dass zweitens kirchliche Positionen nicht unbedingt unpolitisch oder gesinnungsethisch seien. Außerdem wendet auch er sich gegen eine Entgegensetzung von Moral und Religion. Vielmehr könne Religion Menschen zu moralischem Handeln befreien.
Annette Schavan stimmt der Kritik Joas’ an einer Kirche als Mo­ralagentur in dem Aspekt zu, dass die Katholische Kirche die Gewissensfreiheit des Einzelnen stärker respektieren müsse. Gleichwohl müsse sie auf der Grundlage des in Jesu Botschaft liegenden Ethos den Menschen Orientierung geben und Gewissensbildung betreiben. Die Politisierung der christlichen Botschaft müsse nicht zu politisch unklugen Entscheidungen führen, wie sich Schavan am Beispiel der Flüchtlingspolitik (etwas einseitig) zu belegen be­müht, sondern könne vielmehr positive gesellschaftliche Auswirkungen haben, wofür das Beispiel der Rolle Johannes Pauls II. im Blick auf das Ende des Kommunismus angeführt wird.
Ulrich H. J. Körtner hält Joas’ Kritik in großen Teilen für berechtigt und verschärft sie sogar noch durch eine Absage an ein Verständnis der Kirchen »als Akteure[n] einer neuen politischen Theologie und Sozialreligion […], die sich der Weltverbesserung verschrieben hat« (99). Die Zukunft der Kirchen hänge von einer Entmoralisierung des Evangeliums ab (im Sinne der reformatorischen Fundamentalunterscheidung von Evangelium und Gesetz). Zu vielen ethischen Fragen müsse eine »wartende Theologie« (Dietrich Bonhoeffer) qualifiziert schweigen. Die Forderung nach einer Entmoralisierung des Evangeliums sei keinesfalls mit der Forderung nach einer Entpolitisierung des christlichen Glaubens zu verwechseln, von der Körtner sich explizit abgrenzt.
Magnus Striet stimmt Joas’ Kritik dahingehend zu, dass die Kirchen, wenn sie sich als moralische Instanzen öffentlich inszenieren, erstens ein Glaubwürdigkeitsproblem haben und zweitens dazu neigen, zu einfache Antworten auf komplexe Probleme zu geben. Zum christlichen Glauben gehöre zwar auch ein politischer Gestaltungsauftrag und das Christentum habe durchaus auch einen Anteil an der Humanisierungsgeschichte, jedoch weise der christliche Glaube stets auch über Moral (insbesondere über Moralismus) hinaus.
In seiner Replik am Schluss des Buches weist Joas ausgesprochen überzeugend auf einige Missverständnisse hin, die in den Beiträgen sichtbar geworden seien. So sei sein Text keineswegs eine Reaktion auf kirchliche Stellungnahmen zur Flüchtlingskrise gewesen, er habe sich niemals grundsätzlich gegen jedes politische Enga-gement der Kirchen oder für ein »radikal antipolitisches Glau-bensverständnis« (141) ausgesprochen, sein argumentativer Be­zugspunkt sei kein starrer Dualismus von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik und seine Begriffsunterscheidung von re­striktiver Moral und attraktiver Religion sei keineswegs im Sinne einer Undurchlässigkeit gemeint gewesen. Insofern konstruierten seine Gesprächspartner dort Unterschiede, wo es gar keine gäbe, sondern eine große Einigkeit. Theoretische Diskrepanzen im Detail nimmt Joas allerdings ebenso wahr wie argumentative Schwächen und kommentiert sie souverän. So erweist er sich als brillanter und lehrreicher Gesprächspartner für die Theologie.