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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1103–1105

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Curran, Charles E.

Titel/Untertitel:

Diverse Voices in Modern US Moral Theology.

Verlag:

Washington: Georgetown University Press 2019. 264 S. = Moral Traditions. Kart. US$ 34,95. ISBN 978-1-62616-632-5.

Rezensent:

Alexander Merkl

Der US-amerikanische Moraltheologe Charles E. Curran, in Fachkreisen bekannt u. a. durch seine Herausgeberschaft der »Readings in Moral Theology«, untersucht elf von ihm für die Entwicklung der katholischen Moraltheologie in den Vereinigten Staaten als bedeutsam erachtete Persönlichkeiten. Im Mittelpunkt stehen deren methodische Zugänge sowie die biographischen, institutionellen und zeithistorischen Kontexte ihrer Theologie. C. selbst verwendet hierfür die deutsche Wendung Sitz im Leben: »Sitz im Leben refers to one’s historical situation and circumstances – one’s ›setting in life‹. Each author’s Sitz im Leben is explained to show how it has affected his or her approach to moral theology.« (XI)
Der Aufbau der einzelnen Kapitel orientiert sich an dieser Grundeinsicht. Es werden biographische Eckdaten genannt, be­stimmende Lebenserfahrungen geschildert und Wegmarken des wissenschaftlichen Werdegangs nachvollzogen, um hiervon ausgehend den ›Sitz im Leben‹ des jeweiligen Autors zu konturieren und dessen methodischen Zugang, zumeist auf der Grundlage einer oder mehrerer zentraler Publikationen, inhaltsbezogen näher zu bestimmen. Einer abschließenden, ebenso kritischen wie wertschätzenden Würdigung stellt C. stets die Position der Autoren zu mehreren konkreten Einzelthemen voraus. Zwar wirken diese Darstellungen bisweilen additiv und überladen oder wiederholen sich, geben zugleich aber einen umfangreichen Überblick sowohl über die persönlichen Interessen der Autoren als auch über die Themenvielfalt der Moraltheologie der letzten circa 70 Jahre.
In den ersten Beiträgen des Bandes – zu John C. Ford, Bernhard Häring, Josef Fuchs, Richard A. McCormick, Germain G. Grisez und Romanus Cessario – stehen die Nachwirkungen kasuistischer Manualistik, die rund um das Zweite Vatikanische Konzil initiierte moraltheologische Neuausrichtung und die durch die Enzyk-lika ›Humanae vitae‹ entfachten Kontroversen innerhalb der Moraltheologie im Fokus. Gewiss schlagen hier auch die eigenen biographischen Erfahrungen C.s und die persönlichen Auseinandersetzungen um das Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung durch, die im Jahr 1986 zum Entzug der Lehrerlaubnis für C. führten. Der Sachlichkeit seiner Darstellung tut dies, bei aller offenkundigen Gewichtung, keinen Abbruch. C. stellt eine Vielzahl methodischer Zugänge wie den Probabilismus, den Proportionalismus, die Tugendethik oder das Naturrecht dar, stets unter Berücksichtigung lehramtlicher Autorität und der Frage nach der Gültigkeit absoluter moralischer Normen.
Diese »first wave of Catholic moral theologians« (151) ergänzt C. in den Kapiteln 7 und 8 um eine »second wave of feminism« (159). Hierzu nimmt er mit Margaret A. Farley und Lisa Sowle Cahill zwei frühe Vertreterinnen einer feministischen Ethik in den USA in den Blick, bevor er mit Ada María Isasi-Díaz eine lateinamerikanische Ethikerin und mit Bryan N. Massingale einen afroamerikanischen Moraltheologen behandelt, deren befreiungstheologisch inspiriertes Denken wiederum stark durch deren ethnischen Hintergrund geprägt ist: »Ada María Isasi-Díaz and Bryan N. Massingale have both written theological ethics from the margins.« (206) In Kapitel 11 weicht C. insofern von seinem bisherigen Vorgehen ab, als er keine Persönlichkeit, sondern die New Wine, New Wineskins-Bewegung stellvertretend für die neue Generation junger Moraltheologen behandelt. Mit deren Schilderung leitet er ins 21. Jh. über, bespricht im Weiteren jedoch nur noch James F. Keenan als Vertreter einer zeitgenössischen Moraltheologie. Im Fokus des Bandes steht damit die Moraltheologie der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, insbesondere »the first wave of Catholic moral theologians«.
Wohl nicht nur aus der Warte des deutschsprachigen Rezensenten fällt dabei die anerkennende Aufnahme der beiden deutschen Moraltheologen Bernhard Häring und Josef Fuchs auf, die durch ihre Schriften und ihre langjährige Lehrtätigkeit in Rom großen Einfluss auf die internationale Moraltheologie, insbesondere auch der Vereinigten Staaten, nahmen. Beide waren zudem Lehrer, Förderer und Freunde C.s. Dies mag die hohe Wertschätzung Härings bei C., aber auch in der US-amerikanischen Moraltheologie insgesamt erklären: »Häring, however, stands out as the most significant Catholic moral theologian in the twentieth century.« (36) Die Nennung weiterer deutschsprachiger Moraltheologen wie Franz Böckle, Klaus Demmer oder Bruno Schüller verdeutlicht ferner, wie rege und umfangreich die Rezeption der deutschsprachigen Moraltheologie, aber auch die kritische Auseinandersetzung mit ihr insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s in den USA war.
Mit Blick auf das Gesamt des Bandes bleibt zu sagen, dass C. weitgehend deskriptiv verfährt. Er lässt die von ihm aufgenommenen Autoren für sich selbst sprechen. Kommentierungen oder Bewertungen sind explizit (»In my judgment«) gekennzeichnet und wohldosiert. Die Auswahl der Autoren und Themen kann überzeugen. C. bildet ein breites Spektrum unterschiedlichster Positionen katholischer Moraltheologie ab. Dass ein derartiges Vorhaben immer subjektiv eingefärbt und damit wiederum selbst durch den Sitz im Leben des Verfassers gekennzeichnet ist, ist evident, erklärt die offenkundigen Schwerpunktsetzungen, mindert jedoch nicht den objektiven Wert und den informativen Gehalt der Darstellungen. C. stellt die unterschiedlichen Positionen und lebensgeschichtlichen Entwicklungen einzelner Moraltheologen ebenso wie den Wandel der Moraltheologie als Disziplin heraus und setzt beide Aspekte zueinander ins Verhältnis. Bei aller Diversität und Pluralität der einzelnen Ansätze sieht er für die behandelten Autoren dabei eine Gemeinsamkeit: »They strongly object to an anthropology that sees the human person as an isolated individual who is free to do whatever one wants.« (250)
Am Ende der Lektüre verfestigt sich damit der Eindruck, dass C. zweifellos ein Kenner der jüngeren moraltheologischen Geschichte, der hierfür relevanten Literatur und der sachlichen wie personalen Zusammenhänge ist, und dies über die markierte Landesgrenze hinaus. C. legt ein personal-authentisches sowie in sich stimmiges Zeugnis vor, das auf Jahrzehnte wissenschaftlicher Forschungsarbeit, universitärer Lehrtätigkeit und persönlicher Le­benserfahrung zurückgreift. Für eine deutschsprachige Leserschaft eröffnet sich die Möglichkeit, den eigenen Horizont über den muttersprachlichen Binnenraum hinaus zu weiten und zugleich besser zu verstehen, wie die katholische Moraltheologie im Spiegel ihrer eigenen Geschichte, wegweisender Werke und individueller Biographien als eine eben stets historisch, institutionell und biographisch bedingte theologische Kerndisziplin zu verstehen ist, wobei zugleich deutlich wird: »The Catholic tradition in moral theology is truly a living tradition that involves both continuities and discontinuities.« (252)