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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1090–1092

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gramigna, Remo

Titel/Untertitel:

Augustine’s Theory of Signs, Signification, and Lying.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XVI, 229 S. m. Abb. u. Tab. = Semiotics of Religion, 3. Religion and Reason, 60. Geb. EUR 86,95. ISBN 978-3-11-059577-2.

Rezensent:

Hermann Deuser

Semiotik oder Zeichentheorie lässt sich in großen Linien, von der Antike bis zur Gegenwart, darstellen, aber auch in logischer und ontologischer Detailarbeit, die der Komplexität der Relation von Zeichen – Objekt – Interpretant gewachsen zu sein versucht. Letzteres unternimmt Remo Gramigna in genauem Textbezug am Beispiel Augustins, eines großen Klassikers der Semiotik zwischen stoischer Lehrtradition und christlicher Philosophie des Mittelalters. Die allgemeinen und universalen Züge der Zeichenwelten, ihrer Wirkungsgeschichte und Systematiken, hatte vor Jahren das Handbuch für Semiotik geliefert (De Gruyter, Bde. 1–4, 1997 ff.) und damit unter Beweis gestellt, womit G. seine Studie einleitet: »that the concern towards the study of the concept of the sign cuts across the entire history of humanity« (1). Warum Augustin als Beispiel wählen? Er sieht vielleicht als Erster den Rang der Zeichenvermittlung von allem, was irgendwie darstellbar ist, und er verwendet die aus (antiker) Rhetorik und Dialektik stammenden (semiotischen) Erkenntnisressourcen für eine neuartige Hermeneutik, nämlich der Bibel, d. h. der christlichen Theologie. So klar diese Rahmenorientierung abgesteckt ist, so entschieden konzentriert sich G. allein auf die zeichentheoretischen Kapitel in den einschlägigen Werken, die sonst häufig in der Forschung nicht die primäre Aufmerksamkeit auf sich ziehen: De dialectica, De magistro und De doctrina christiana. Auf diese drei Kapitel textnaher Analysen zum Zeichenbegriff in allen seinen Dimensionen folgen noch ein Kapitel über das von Augustin mehrfach behandelte Problem der Lüge (De mendacio, Contra mendacium) und ein kurzes Kapitel mit Beobachtungen zur Wahrnehmungstheorie in verschiedenen Texten (von den Soliloquia bis zu De trinitate). Die Studie schließt mit einer Übersicht zu den erarbeiteten Elementen einer Zeichentheorie bei Augustin selbst, aber durchaus auch im Horizont heutiger Fragestellungen. Dazu gehört die ständige Präsenz der Forschungsliteratur, die immer in die kritisch analysierenden Textauslegungen einbezogen wird. Allerdings bleiben die theologischen Kontexte weitgehend ausgeklammert. G. sieht zwar, dass den Texten eine »double valence« zukommt, aber zu trennen sind die theologische und die philosophische Perspektive nicht (7).
Doch zunächst zu den drei Basiskapiteln, die zeigen wollen, was es heißt, eine Bedeutung zu verstehen, eine »semiosis«, eine »scientia signorum« im Kopf zu haben (32 [im Zitat von Tarmo Toom]). Die frühesten Orientierungen dazu finden sich in De dial., sie sind aber schon wegen des Fragmentcharakters dieser Schrift nicht vollständig oder einheitlich: Die einfache Grundunterscheidung bzw. (zweistellige) Relation zwischen signum und res verlangt nach Differenzierungen, weil das Zeichen selbst als gegenständlich, als Sinneswahrnehmung und vor allem als Wort einer Sprache näher bestimmt werden muss. Die semiotische Konstellation kann folglich dreistellig angegeben werden, in einem Dreieck als Res – Vox articulata – Dicibile; Letzteres steht für den geistigen Verstehenszugang (24.29 f.); wird schließlich im Verstehen die Außenrelation markiert, so entsteht eine dictio in einer vierstelligen Konstellation mit einer res als »external object« (30). Augustin ist darauf in der Weise nicht mehr zurückgekommen. Der Lehrdialog De mag. setzt mit der Frage nach den Erkenntnisbedingungen der Sprache und ihrer Leistungsfähigkeit neu ein und bietet eine Serie von Zeichenfunktionen, z. B.: in der pragmatischen Situation der Zeichenrezipienten (55); die Zeigefunktion des Index-Zeichens im Unterschied zu Qualitäten (58 f. [mit C. S. Peirce]); Wörter (als Zeichen) können sich selbst, andere Zeichen und Dinge bezeichnen (64); die Zeichenvermittlung findet eine Grenze im Zeigen von Bedeutungen (79 ff.); Augustin entdeckt »a ›semiotics of the natural world‹«(86); der Laut der Sprache (articulata vox) gibt die Bedeutung (significatio [92 f.]), aber garantiert sie nicht (Missverständnisse, Vorrang des Realen gegenüber dem Zeichen [94 ff.]). – Das alles wird in genauer Argumentation und Arbeit am Text entwickelt, der Aufbau und die Grenzen des jeweiligen Denkmodells werden durch Schemata und Diagramme bestens sichtbar gemacht. Die Interpretation des zentralen 3. Kapitels über De doctrina christiana ist von G. damit gut vorbereitet. Ich will aus seiner Präsentation der expliziten und materialreichen Zeichenlehre dieses (zum Teil) späten Werkes, das sich der biblischen Hermeneutik verpflichtet weiß, zwei Kernprobleme herausgreifen: die Definition des Zeichens und die entdeckte semiotische Dreistelligkeit.
Gleich im ersten Buch von De doc. lassen sich zwei Definitionen von res identifizieren, nämlich (1.) als das, was nicht zum Bezeichnen von etwas anderem gebraucht wird; und (2.), weil Zeichen auch irgendein Ding sind, gilt: was kein Ding ist, ist überhaupt nichts (113 f.). Offensichtlich gehört die Zweistelligkeit, d. h. die Relation zur Erkenntnisbedingung des Zeichens und des Dings. Anders gesagt: Res steht erstens signum gegenüber und schließt zweitens das Gegenüber ein (»a relation of inclusion« [116]). Aber auch das Zeichen hat eine mehrfache Bedeutung, z. B. hat es den Charakter einer sinnlichen Wahrnehmung und verweist zugleich auf etwas außerhalb seiner selbst (»aliud aliquid ex se faciens in cogitatione venire« [124]). Damit wird klar, dass außer res und signum immer auch eine dritte verstehende Instanz mitgedacht werden muss, wie sie C. S. Peirce als Interpretant namhaft gemacht hat (127 f.). Die Semiose ist wesentlich dreistellig, und das könnte auch für die zahlreichen anderen Unterscheidungen durchgeführt werden, die Augustin vorlegt, z. B.: signa naturalia/data (129), Zeichen in »non-verbal communication« (130), Zeichengebrauch bei Tieren (136 f.), die Fülle der Zeichen über sinnliche Wahrnehmung (140). Eine solche strukturell einheitliche, dreistellige semiotische Theorie aber entwirft Augustin nicht, und auch G. belässt es bei gelegentlichen Hinweisen. So ist es auch zu verstehen, dass in den abschließenden Kapiteln 4 und 5 Augustins Theorie der Lüge und Elemente seiner Wahrnehmungstheorie nur lo cker an die strengeren semiotischen Exegesen angeschlossen sind, z. B. in der schönen Formel von U. Eco: ein Zeichen ist alles, »that can be used in order to lie« (147).
Was man wünschen könnte, wäre die Einbeziehung der ontologischen Frage nach dem Realitätssinn der Zeichen, zumal des Wortes. Der Begriff des verbum intimum aus De trinitate aber wird nicht erwähnt. Ebenso wäre es sinnvoll, den »pragmatischen« (200) Aspekt der Zeichen-Kommunikation verbunden mit der Gewissheitsfrage aufzunehmen: ob Augustin tatsächlich entgegen der Rhetorik-Tradition die Überzeugungsbildung aus der semiotisch bestimmbaren Realität entfernt hat (vgl. G. Linde, Zeichen und Gewissheit, 2013). Trotzdem, diese Studie ist in ihrer Konzentration auf die Schlüsseltexte zu Augustins Semiotik unbedingt vorbildlich und lesenswert.