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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1088–1090

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Tamcke, Martin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Das ist mehr als ein Beitrag zur Völkerverständigung«. Zur Geschichte und Rezeption des Völkermordes an den Armeniern.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2016. 256 S. m. 7 Abb. = Göttinger Orientforschungen. I. Reihe: Syriaca, 52. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-447-10678-8.

Rezensent:

Hacik Rafi Gazer

Die im vorliegenden Sammelband veröffentlichten elf Beiträge beruhen auf zwei Veranstaltungen. Die erste wurde im Wintersemester 2014/15 von Martin Tamcke am Institut für Ökumenische Theologie/Orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen als Konferenz in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Armenischen Gesellschaft an der Evangelischen Akademie Hofgeismar durchgeführt und die zweite im Sommersemester 2015 an der Universität Göttingen. Die Konzeption beider Veranstaltungen berücksichtigte den parallelen Völkermord an den Armeniern und den syrischen Christen (Syrisch-Orthodoxen, Chaldäern, Aramäern, Assyrern, syrischen Katholiken und syrischen Protestanten). Nach den Angaben des Herausgebers konnten allerdings die in den beiden Veranstaltungen vorgetragenen Beiträge über die syrischen Christen nicht veröffentlicht werden.
Der Titel des Sammelbandes entstammt aus einem Zitat des Katholikos-Patriarchen Karekin II.: »Wir haben den Genozid überlebt, jetzt erwarten wir von der Welt, dass sie den Genozid als solchen anerkennt. Das ist mehr als ein Beitrag zur Völkerverständigung, das ist ein Beitrag zum dauerhaften Frieden und zur Anerkennung unseres Volkes und unserer Religion« (7). In einem ersten Beitrag, »Der Völkermord an den Armeniern« (9–26), wird vom Vorsitzenden der Deutsch-Armenischen Gesellschaft Raffi Kantian der historische Rahmen, in dem der Völkermord im Osmanischen Reich stattgefunden hat, beschrieben. Kantian veröffentlicht dabei auch drei Originaldokumente: »Vieze Konsul Clayton aus Van, Nov. 1879, Lagebeurteilung und Reformpostulate« (19–21.), »Türkisch-russisches Abkommen vom 26. Januar (8. Februar) 1914« (21–23) und einen Briefentwurf des ehemaligen Konsuls von Aleppo, Walter Rößler, an Johannes Lepsius (24–26). Der folgende kurze Beitrag des Herausgebers Martin Tamcke befasst sich mit dem Zeugnis des armenisch-katholischen Erzbischofs Ignatius Maloyan (1869–1915). Er war seit 1911 als katholisch-armenischer Bischof in Mardin tätig. Am 3. Juni 1915 wurde er festgenommen und am 11. Juni 1915 erschossen. Papst Johannes Paul II. hat Ignatius Maloyan am 7. Oktober 2001 seliggesprochen. Tamcke weist zu Recht daraufhin, dass mit Maloyans Ermordung auch der Traum einer friedvollen Koexistenz der Völker und Religionen in der Osttürkei starb. In dem Beitrag »Völkermord als Selbstschutz oder Vergeltung? Muslimische Kriegs- und Vertreibungserfahrungen vor dem Ersten Weltkrieg« (35–52) macht Tessa Hofmann auf ein Forschungsdesiderat aufmerksam und plädiert dafür, bei der Erforschung des Genozids an osmanischen Christen die trauma-tischen Erfahrungen der muslimischen Vertriebenen mit in den Blick zu nehmen. Sicherlich ist das eine berechtigte Aufforderung. Kai Merten geht in »›Umzug und Neuansiedlung‹ – Gedanken zum Sprachgebrauch osmanischer Quellen zu den Armenier-Massakern im Jahre 1915« (53–62) der Frage nach, welche Bezeichnung bei der Deportation der Armenier in den osmanischen Quellen verwendet wurde. Hierbei handelt es sich um einen Beitrag, den Merten am 14. Januar 2015 als Antrittsvorlesung in Marburg gehalten hatte. Er kann zeigen, dass für die Vernichtung der Armenier in den osmanischen Quellen ein verharmlosender Sprachgebrauch zu beobachten ist. In einem weiteren Beitrag, »Der Krimkrieg (1853–56) und seine Auswirkungen auf die Christen im Osmanischen Reich« (63–81), führt Kai Merten aus, dass im Rahmen der Tanzimatperiode vom 3. November 1839 bis 22. November 1876 nach den ersten Reformen von 1839 auch das folgende zweite Reformpaket vom 18. Februar 1856 nicht die erhofften Veränderungen für die Christen im Osmanischen Reich mit sich gebracht hatte. Der Friedensvertrag von Paris vom 30. März 1856 bestätigte die Integrität des Osmanischen Reiches. Raffi Kantian befasst sich damit in seinem Beitrag »Eingezwängt zwischen Zivilgesellschaft und Politik. Der Völkermord an den Armeniern und die Türkei« (83–99). Kantian stellt bei seiner Darstellung über die Haltung des türkischen Staates zum Thema Völkermord an den Armeniern fest, dass es auch am Vorabend des 100. Gedenkjahres keinen Paradigmenwechsel in der Türkei gegeben hat und geben wird. D. h. die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern setzt sich fort. Areg Galstyan analysiert den Völkermord an den Armeniern bei den amerikanisch-türkischen Beziehungen seit Mitte des 20. Jh.s: »The issue of the Armenian Genocide recognition within the US-Turkish relations from 1950 to 2012« (101–113). Lukas Reineck gewährt einen Einblick über die Armenier im Libanon und deren Gedenken des Völkermords. Er lässt dabei die libanesischen Armenier zu Wort kommen: »Wie Armenier des Genozids im Libanon gedenken« (115–122). Martin Tamcke stellt die Hilfsmaßnahmen für die verfolgten Armenier aus dem niedersächsischen Raum, Göttingen, Hannover und Hermannsburg, vor. Durch die evan-gelischen Pfarrer und Missionare, aber auch durch die Gelehrten der Universität Göttingen wurde bereits seit 1896 den verfolgten Armeniern Hilfe gewährt: »Der Armeniergenozid und Göttingen« (123–153). Volker Metzler schildert ebenfalls die Hilfsmaßnahmen und Spendenaktionen der Orient- und Islamkommission zu Gunsten der Armenier: »Die Orient- und Islamkommission und die Armenier« (155–172). Der Vorsitzende der Orient- und Islamkommission Karl Theodor Axenfeld gestaltete diese Hilfe für notleidende Armenier primär am Interesse der deutschen Regierungs- und Kriegspolitik orientiert aus. Volker Metzler geht darauf dann ausführlich in dem folgenden Beitrag »Armenierhilfe zwischen christlicher Solidarität und politischer Instrumentalisierung: Zur Arbeit des ›Armenier-Ausschusses‹ zwischen OIK und DAG (1917–1918)« (173–183) ein. Christoph Leonhardt analysiert sehr präzise die Lage der beiden Patriarchate der Rumänisch- und Syrisch-Orthodoxen in Syrien und im Libanon sowie ihre unterschiedliche Haltung in dem levantinischen Krieg der letzten Jahre zu den jewei-ligen Machthabern in Syrien und im Libanon: »Der levantinische Krieg. Die islamistische Bedrohung und die Re-definierung politischer Allianzen im Libanon. Eine kritische Analyse zur Positionierung interviewter Rum- und Syrisch-Orthodoxer Christen« (185–231). Cordula Weißköppel analysiert die Trauerpraxen der koptischen Christen in Ägypten nach dem Terroranschlag an der koptischen Kirche El Quedessin am 1.1.2011: »Trauern um Terroropfer. Synästhetisch-visuelle Praxen der Konstruktion von Märtyrern unter koptisch-orthodoxen Christen in Ägypten« (233–256).
Die veröffentlichten Beiträge sind für die Genozidforschung in der vergleichenden Perspektive von Bedeutung. Darüber hinaus gewähren sie Einblicke in die gegenwärtige sehr bedrängte Lage der Christen in Syrien, im Libanon und in Ägypten. Sie machen auch auf die Notwendigkeit der Völkerverständigung über Gräben der Verfeindung oder Ignoranz des jeweils anderen hinweg aufmerksam.