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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1057–1059

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Andruska, Jennifer L.

Titel/Untertitel:

Wise and Foolish Love in the Song of Songs.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2019. XIV, 220 S. = Oudtestamentische Studiën, 75. Geb. EUR 109,20. ISBN 978-90-04-33100-6.

Rezensent:

Melanie Peetz

Die Monographie »Wise and Foolish Love in the Song of Songs« von Jennifer L. Andruska ist als Qualifikationsarbeit (PhD) an der University of Cambridge/UK unter der Betreuung von Katharine J. Dell entstanden. Sie knüpft an die in der Forschung debattierte Frage an, ob und in welchem Ausmaß das Hohelied weisheitlich beeinflusst ist. Während zum Beispiel M. Fox jegliche Beziehung zur Weisheit verneint, bestimmt B. S. Childs das Hohelied als Weisheitsbuch. A. nimmt in ihrer Monographie eine mittlere Position ein: Sie arbeitet als Hauptergebnis heraus, dass das Liebeslied Hohelied von weisheitlichen Formen und Inhalten durchzogen wird. Dabei legt sie eine Interpretation vor, die eine neuartige Sicht auf die weisheitliche Botschaft des Hoheliedes eröffnet.
In der Forschung wird nicht nur der weisheitliche Charakter des Hoheliedes diskutiert. Daher klärt A. zunächst – erfreulich kurz – ihre Position zu strittigen Fragen und leitet dann zu der These ihrer Arbeit über (vgl. Kapitel 1): Für A. besingt das Hohelied die Liebe zweier unverheirateter Menschen, deren Beziehung als wechselseitig und gleichberechtigt vorgestellt wird. Darüber hinaus sei das Hohelied nicht nur unterhaltsame Literatur (s. z. B. M. Fox), sondern vielmehr eine Schrift, die weisheitliche Einsichten zum Thema Liebe vermittelt.
Nachdem A. ihr methodisches Vorgehen vorgestellt hat (vgl. Kapitel 2), wendet sie sich den Versen zu, denen die Forschung gemeinhin die stärksten Beziehungen zur Weisheit zugesteht: dem Refrain »Weckt nicht [die Liebe]« (»Do Not Awaken [Love]«) in Hld 2,7; 3,5 und 8,4 sowie dem Spruch in Hld 8,6–7, der die Liebe mit der Gewalt des Todes vergleicht (vgl. Kapitel 3). Für den in seiner Bedeutung umstrittenen Refrain, »weckt nicht die Liebe, ehe es ihr gefällt«, bietet A. eine neuartige Interpretation: Die im Refrain er­wähnte Liebe sei nicht als abstrakte Emotion zu verstehen. Vielmehr habe der Artikel in הבהאה (= die Liebe) eine anaphorische Funktion und referiere auf die Liebe, die in den Liedern des Hoheliedes vorgestellt wird. Gemeint sei also ein bestimmter Typ von Liebe, welcher sich aus dem Hohelied abstrahieren lasse. Der didaktische Refrain lehre, dass niemand diese Liebe in sich wecken dürfe, bis dieser Typ von Liebe – nämlich die im Hohelied vorgestellte Liebe – tatsächlich präsent sei (vgl. 60).
Die Warnung im Refrain erkläre sich aus Hld 8,6–7: Die Liebe ist gewaltig wie der Tod. Sie ist also eine extrem starke Emotion. Daher ist es nach A. weise – um Schmerz und Liebeskummer zu vermeiden –, vorsichtig zu sein, für wen oder für welche Art von Beziehung diese starke Emotion geweckt wird.
A. zeigt sodann auf, mit welcher Art von Liebe wir es im Hohelied zu tun haben: Die im Hohelied vorgestellte Liebe sei wech-selseitig, friedvoll, gleichberechtigt, begehrend, sexuell-erotisch, ex­klusiv, verbindlich, zeitlos etc. Diese Liebe, die A. als weise be­zeichnet, werde im weisheitlichen Buch der Sprüche in Kapitel 7 kontrastiert. Dort tritt eine Verführerin auf, die die Liebe des Hoheliedes zwar durch sprachliche und motivische Aufnahmen imitiere, sie aber zugleich auch pervertiere, indem sie dem törichten Mann eine exklusive Liebe nur vorgaukele.
Im vierten Kapitel diskutiert A., was Weisheit überhaupt ist. Sie nimmt eine weite Begriffsbestimmung vor und zeigt auf, dass nicht nur der Refrain in Hld 2,7; 3,5 und 8,5 sowie der Spruch in Hld 8,6–7 weisheitlich beeinflusst sind, sondern dass das Hohelied insgesamt von weisheitlichen Formen und Inhalten durchzogen wird (vgl. Kapitel 5). Das Innovative an diesem Ansatz ist: A. stellt nicht nur inhaltliche und thematische Parallelen zur biblischen Weisheitsliteratur (Sprüche, Kohelet, Ijob) fest, sondern vor allem auch zur älteren Weisheitsliteratur (advice literature) aus Ägypten und Mesopotamien. Formen dieser advice literature, die im Hohelied begegnen, sind nach A.: Sprüche, Instruktionen, di­daktische Ge­dichte, Allegorien/Fabeln, Streitgespräche oder Dia-loge, Listen, autobiographische Bekenntnisse/didaktische Erzählungen.
Besonders intensiv setzt sich A. mit der didaktischen Intention des Hoheliedes auseinander (vgl. Kapitel 6). Wie die advice litera-ture der Umwelt wolle das Hohelied die Leserschaft instruieren, weise zu werden. Das Hohelied kombiniere dabei das Genre advice literature mit dem Genre Liebeslied, um die Lesenden zu lehren, erfolgreich Liebe zu finden. Das didaktisch-weisheitliche Ziel des Ho­heliedes bestehe darin, die Leserschaft einzubeziehen und eine Identifikation mit den Liebenden im Hohelied zu bewirken. Angesprochen würden die Lesenden etwa durch die Warnung, die Liebe nicht zu wecken, ehe es ihr gefällt, oder durch den Ausruf, sich an der Liebe zu berauschen (vgl. Hld 5,1). Darüber hinaus sei es leicht, sich mit den Liebenden im Hohelied zu identifizieren, weil sie anonym blieben. Das Hohelied inspiriere die Leserschaft, nach der im Text vorgestellten Liebe zu suchen, so dass sie zu weisen Liebenden werden. Das letzte und siebte Kapitel fasst den Ertrag der Arbeit zusammen und enthält Reflexionen für weitere Studien.
Insbesondere durch die Einbeziehung der advice literature aus der Umwelt Israels gelingt es A., neue Argumente für den weisheitlichen Charakter des Hoheliedes vorzulegen. Gleichzeitig leistet die Arbeit einen Beitrag zu der in der Forschung geführten Diskussion, wie »Weisheit« zu definieren sei. – Anregend sind die Ausführungen zur didaktischen Natur des Hoheliedes: Vor allem die Überlegungen zur Leseridentifikation und zur Rolle der Emotionen im Hohelied überzeugen (vgl. dazu auch die Studien von M. Peetz). Spannend ist dabei der Gedanke, dass das Hohelied darauf ziele, die Lesenden in weise Liebende zu transformieren.
Zweifelsohne originell ist die Interpretation, die A. für den Re­frain in Hld 2,7; 3,5 und 8,4 anbietet. Allerdings kann sie am Text nicht schlüssig belegen, dass הבהאה (= die Liebe) in Hld 2,7; 3,5 und 8,4 einen bestimmten Typ von Liebe bezeichnet (»the type of love displayed throughout the Song«, 59).
Dass הבהאה auf eine Liebe bzw. Liebesbeziehung verweise, die sich aus den Liedern des Hoheliedes abstrahieren lasse, bleibt hypothetisch. – In diesem Zusammenhang lässt sich auch der Titel der Monographie »Wise and Foolish Love in the Song of Songs« kritisieren: Ist eine solche Dichotomie von »weiser Liebe« und »törichter Liebe« im Text des Hoheliedes wirklich festzumachen? Oder lässt sich bes­tenfalls indirekt – insbesondere im intertextuellen Zusammenspiel mit Spr 5–7 – auf einen weisen oder törichten Umgang mit der Liebe schließen?
Trotz dieser Kritikpunkte bleibt: Die Arbeit liefert für die Diskussion um den weisheitlichen Charakter des Hoheliedes neue Impulse. Außerdem führt sie die Diskussion um die Frage nach der weisheitlichen Botschaft des Hoheliedes weiter und enthält bezüglich der Intention des Hoheliedes anregende Beobachtungen.