Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1056–1057

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kalbarczyk, Nora, Güzelmansur, Timo, u. Tobias Specker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gibt Gott Gesetze? Ius divinum aus christlicher und muslimischer Perspektive.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2018. 240 S. = CIBEDO Schriftenreihe, 5. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-7917-3014-1.

Rezensent:

Jutta Sperber

Um es gleich zu Beginn zu sagen: Eine einfache Lektüre ist dieser Sammelband nicht. Wer ihn durchgearbeitet hat, weiß, was er getan hat – ist aber mit Sicherheit auch um viele Einblicke und etliches Wissen zum Thema reicher. Der fünfte Band der Schriftenreihe der Christlich-Islamischen Begegnungs- und Dokumentationsstelle CIBEDO, einer Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz, befasst sich recht wörtlich mit der Frage: Gibt Gott Gesetze? Dahinter steht der Grundgedanke, dass, wer die Rechtsordnung einer Gemeinschaft verstehen will, Ursprung, Sinn und Zweck der betreffenden Gemeinschaft kennen sollte, denn Recht und Gesetz sollen das Zusammenleben der Menschen so regeln, dass die Eigenart der jeweiligen Gemeinschaft bewahrt wird (siehe Zitat, 138).
Während islamisches Recht seit geraumer Zeit in aller Munde ist, sind Grundsatzdiskussionen zum Kirchenrecht eher eine Sache für Spezialisten. Es ist von daher ein großes Verdienst dieses Bandes, beide Traditionen gleichzeitig in den Blick zu nehmen und ihnen dieselben Fragen zu stellen nach dem Verhältnis von Theologie und Recht bzw. Rechtswissenschaft, von Offenbarung und Recht, anders formuliert nach göttlichem Recht im Wandel der Zeit und schließlich nach ius divinum und Naturrecht, also danach, inwieweit religiöse Rechtsbegründungen Vernunftargumente aufnehmen können. Hier spielt beispielsweise auch die Frage der Menschenrechte mit hinein. In allen drei Teilen behandeln jeweils ein christlicher und ein muslimischer Autor bzw. Autorin das Thema aus der Perspektive ihrer Religion. Eine vergleichende Zusammenfassung der Mitherausgeberin Nora Kalbarczyk aus islamwissenschaftlicher Perspektive rundet den Band ab. Der muslimische Part geht auf die sunnitischen theologischen wie juristischen Schulbildungen ein, spart aber leider die schiitische Perspektive aus. Der christliche Part geht, zumindest bei der Frage von Theologie und Recht, auf alle Konfessionen ein, katholisch, orthodox, protestantisch (lutherisch wie reformiert) und anglikanisch, engt sich da­nach aber doch vor allem auf die katholische Tradition ein. Die Detailfülle in allen Beiträgen ist beeindruckend, besonders interessant aber ist natürlich, worin die verschiedenen christlichen und muslimischen Perspektiven untereinander und sogar miteinan-der übereinstimmen. Nora Kalbarczyk streicht heraus, dass beide Religionen zwischen einem genuin göttlichen Recht und einer menschlichen Erkenntnis dieses göttlichen Rechts unterscheiden. Aus Sicht der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) ist dies eigentlich schon von ihrem Namen her, der ›Verstehen‹ bedeutet, völlig klar, dass es um das menschliche Unterfangen einer Annäherung an das göttliche Recht, die Scharia, geht, das nur ein menschliches Verständnis des göttlichen Systems hervorbringen kann. Es geht also nur um ein religiös begründetes, nicht direkt um göttliches Recht. Aber wie Nora Kalbarczyk völlig zutreffend bemerkt: Diese Unterscheidung »ist ein Aspekt, der im allgemeinen öffentlichen Diskurs (beispielsweise zum Scharia-Begriff) kaum Gehör findet.« (229) Weiterhin wird im Vergleich deutlich, dass in beiden Religionen die Regelungen desto wandelbarer sind, je konkreter sie in den zwischenmenschlichen Bereich eingreifen. Eine große Gemeinsamkeit des Rechtsverständnisses in den verschiedenen christlichen Traditionen aber ist, dass sie alle zwischen einer Person als Glied der Kirche und als Staatsbürger unterscheiden und von daher auch auf einer höheren Ebene »zwischen der theologischen Verankerung des kirchlichen Rechts und einer theologischen Deutung des staatlichen Rechts« (221). Deshalb ist der vielleicht folgenreichste Unterschied zwischen Kirchenrecht und islamischem Recht auch derjenige, dass das kirchliche Recht sich primär auf die kirchliche Ge­meinschaft bezieht, während das islamische Recht keine institutionell verfasste Glaubensgemeinschaft als Bezugsgröße hat bzw. etabliert, sondern sich auf die Gesellschaft als Ganze bezieht, wie ziemlich am Ende des Bandes konstatiert wird. Nachdem das Buch sich selbst als eine Anregung zur Vertiefung und eventuellen Korrektur der hier dargestellten Gedanken versteht, wäre dies sicherl ich ein Punkt, an dem unbedingt weitergedacht werden sollte, gerade auch angesichts einer Gesellschaft, in der Christen und Muslime zusammenleben. Welche Eigenart hat eine solche Ge­meinschaft und welche Rechtsordnung braucht sie, so sich denn Ur­sprung, Sinn und Zweck einer Gemeinschaft in deren Rechtsordnung ausdrücken?
Noch über einen solchen wünschenswerten Folgeband hinaus bleibt der Band ein Nachschlagewerk von zweifellos bleibender Be­deutung, das jeder in Reichweite haben sollte, der sich mit ius divinum aus christlicher und muslimischer Perspektive beschäftigt.