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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

1016–1019

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Astorri, Paolo

Titel/Untertitel:

Lutheran Theology and Contract Law in Early Modern Germany (ca. 1520–1720).

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019. XX, 657 S. = Law and Religion in the Early Modern Period/Recht und Religion in der Frühen Neuzeit, 1. Geb. EUR 128,00. ISBN 978-3-506-70150-3.

Rezensent:

Christoph Strohm

Paolo Astorris Untersuchung des Beitrags lutherischer Theologie zur Entfaltung des Vertragsrechts in Deutschland ist als erster Band einer neuen Reihe »Law and Religion in the Early Modern Period/Recht und Religion in der Frühen Neuzeit« erschienen. Die 2018 an der Juristischen Fakultät der Katholischen Universität Löwen abgeschlossene Dissertation steht damit in der Kontinuität mehrerer anderer Arbeiten in jüngster Zeit, die auf dem Hintergrund der neueren Konfessionalisierungsforschung nach Spezifika der Kulturwirkungen der Konfessionen in der Frühen Neuzeit fragen. A. wertet eine große Zahl von zwischen 1520 und 1720 entstandenen Texten aus, in denen sich lutherische Theologen mit Fragen des Vertragsrechts, und das heißt, den unterschiedlichsten Vertragsarten vom Kaufvertrag über den Kreditvertrag bis hin zum Mietvertrag befasst haben.
Ein erster Teil der Untersuchung bietet einen weitgefassten, in die Zeit der Alten Kirche zurückgreifenden, skizzenhaften Überblick über die Bedeutung rechtlicher Regelungen für das geistliche Leben. Die Ausführungen über die Verhältnisse vor der Reformation und in der frühmodernen römisch-katholischen Welt münden in eine Erörterung der jesuitischen Moraltheologie (17–46). Eingehend werden dann die wichtigsten Texte, in denen lutherische Theologen von der Reformationszeit bis Anfang des 18. Jh.s Themen des Vertragsrechts behandelt haben, vorgestellt (47–110). Die Gattungen reichen von Abhandlungen zur Ethik und Dogmatik über Bibelkommentare und Predigten bis hin zu kasuistischer Be­ratungsliteratur und Naturrechtstraktaten. Neben Martin Luther und Philipp Melanchthon, deren relevante theologische Grund entscheidungen eingehend wiedergegeben werden, zieht A. hier wie auch im weiteren Verlauf seiner Untersuchung neben anderen Johannes Brenz, David Chytraeus, Paul von Eitzen, Victorin Strigel, Martin Chemnitz, Jakob Andreae, Aegidius Hunnius und Johann Gerhard, aus den späteren Jahrzehnten Friedrich Balduin, Balthasar Meisner, Georg König, Johann Konrad Dannhauer, Valentin Alberti, Johann Joachim Zentgrav, Johann Adam Osiander sowie Johann Franz Buddeus heran.
Der zweite Teil des Werkes legt die These der Untersuchung offen: »A Biblical Framework for Contract Law: Basic Elements« (113–257). Bei aller Übernahme scholastischer oder kanonisch-rechtlicher Gedanken suchen die lutherischen Theologen das Vertragsrecht im Rahmen biblischer Vorgaben zu entfalten. Das hat für die inhaltliche Ausgestaltung allerdings kaum spezifische Folgen, außer der vielfach wiederholten Feststellung, dass Verträge und hier vor allem solche, die mit Zinszahlung verbunden sind, nicht zu Lasten der Armen gehen dürfen. Das Liebesgebot als Zusammenfassung des Dekaloges ist der oberste Maßstab. Das Diebstahlsverbot des Dekaloges bietet die entscheidende Vorgabe für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Verträgen. Gegen Vertreter des linken Flügels der Reformation wird Privateigentum als in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes herausgestellt. Verträge sind ein von Gott vorgesehenes Mittel, für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen, wie das zuerst von Melanchthon in Kombination des biblischen Liebesgebots mit dem aristotelischen Konzept der iustitia commutativa erläutert worden ist. Die zweite wesentliche biblische Maßgabe ist das achte Gebot, von dem aus der Leitsatz »pacta sunt servanda« gedeutet wird. Gemäß dem Gebot, die Wahrheit zu sagen, kann es hier nur wenige Einschränkungen geben.
Der dritte und umfangreichste Teil der Untersuchung »Selected Issues from Particular Types of Contract« (261–429) präsentiert die Aussagen einer großen Zahl von Theologen zu Themen wie Verkauf, Pacht, Rückgabe und Entschädigung sowie Kreditwesen und Zinsverbot. Den breitesten Raum nimmt die Darstellung der Diskussion um Zins und Wucher ein (324–429). A. gelingt es hier, über die vielfach behandelten Texte Luthers hinaus eine Fülle von we-nig bekannten Texten auszuwerten. Auch der vierte Teil »From Lutheran Theology to Legal Practice« (433–555) nimmt überwiegend die kontroversen Standpunkte in dieser Sache in den Blick. Ausgangspunkt ist der Streit, den die Ablehnung der kaiserlichen Regelung, fünf Prozent Zins zuzulassen, durch fünf Regensburger Pfarrer in den 1580er Jahren ausgelöst hat. Demgegenüber verteidigten der Tübinger Theologe Jakob Andreae und andere das Recht der weltlichen Obrigkeit zu solchen Regelungen.
Erst im vierten Teil werden auch die Argumentationen von Ju­risten eingehender dargestellt (499–555). Mit Matthias Coler (1530–1587) und Peter Heige (1559–1599) wählt der A. zwei Juristen aus, die von Benedikt Carpzov d. J. 1638 als einschlägige Autoren hervorgehoben werden. Eine weitergehende Begründung der Auswahl fehlt. Da Coler und Heige ihre Ausführungen zur Zinsfrage in der Auseinandersetzung mit den Juristen Hieronymus Schurpf (Schürff) und Matthäus Wesenbeck entfalten, behandelt A. auch diese eingehend. Schurpfs und Wesenbecks grundsätzlich kritische Bewertung der Zinsnahme wird in späterer Zeit mit Verweis auf die Goldene Regel nach Mt 7,12 aufgegeben. So zeigt sich bei den Juristen ein ähnlicher Befund wie bei den Theologen. Neben der strikteren Ablehnung des Zinses, wie sie Luther und später zum Beispiel Martin Chemnitz vertreten haben, finden sich auch Positionen, die das Zinsverbot nach Lk 6,35 als gültig nur im Blick auf Arme und Bedürftige ansehen.
Das Gesamtergebnis der umfangreichen Untersuchung ist we­nig überraschend. Die Vertragslehre, die lutherische Theologen im 16. und 17. Jh. entfalten, ist ein »hybrid of the Lutheran and the Catholic way of thinking« (257). Biblische Texte bieten die umfassende Norm, aus der die Begründungen und Argumente genommen werden. Da hier aber zu wenig konkrete Sachverhalte behandelt werden, müssen weitere, vielfach aus der Scholastik und auch dem kanonischen Recht entnommene Argumente hinzugefügt werden. A. fasst das etwas zu holzschnittartig zusammen:
»In this framework, two different spirits coexisted: the scholastic trust in reason, and the Lutheran obedience to the Scriptures – the Catholic idea of human freedom and the Lutheran view of the supernatural effects given by the Holy Spirit. This might seem a paradox, but it actually demonstrates an effective combination of the new and the old. It is a transitional stage, towards a sharper separation between morality and law that will take place in the eighteenth century.« (257)
Das ist missverständlich formuliert, denn auch im Bereich der Reformation werden bald eigenständige Modelle einer Verbindung von Vernunft und Offenbarung bzw. philosophisch-juristischer Er­kenntnis und Heiliger Schrift entwickelt. Vor allem Melanchthons an der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium orientierte Systematik ist hier zu nennen. Sie hat nicht zufällig, wie A. vielfach und treffend herausarbeitet, für die weitere Entfaltung der Vertragslehre in den Werken lutherischer Theologen überragende Be­deutung gewonnen. Als weiteren wichtigen Beitrag lutherischer Theologen zur Rechtsentwicklung kann man ihre biblische Begründung der Zuständigkeit der weltlichen Magistrate für Rechtsetzung und -anwendung in allen Fragen des Vertragsrechts nennen. Damit ist eine Emanzipation von den Priestern, die als Beichtväter und Ausleger des kanonischen Rechts eine wichtige Rolle spielten, verbunden. An ihre Stelle tritt im Wesentlichen der Maßstab der Liebe, in dem die Theologen die Gebote des Dekaloges zusammengefasst sehen und an dem sich die weltlichen Obrigkeiten zu orientieren haben.
A. hat überwiegend Theologen untersucht. Hier ist die Zuordnung zur lutherischen Konfession bei aller Pluralität vergleichsweise eindeutig. Anders sieht es bei den Juristen aus. Was unterscheidet, wenn überhaupt, die Vertragslehre eines lutherischen von einem reformierten Juristen? Gerade ein Jurist wie Matthäus Wesenbeck zeigt, wie schwierig die Zuordnungen hier werden. Er lehrte zwar in Wittenberg, suchte sich aber gerade den hier eingeforderten Abgrenzungen gegen das Reformiertentum zu entziehen.
Die Untersuchung leistet eine Darstellung der Vertragslehre im Bereich der lutherischen Theologie zwischen 1520 und 1720. Insbesondere die Diskussionen um die Frage der Legitimität der Zinsnahme werden umfassender als bisher geleistet vorgestellt. Man kann der Dissertation im Blick auf die relevanten Autoren und Werke kompendienhaften Charakter bescheinigen. Umso unverständlicher ist es, dass das Werk kein Namenregister (sowie kein Sach- und Bibelstellenregister) bietet.