Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

1014–1016

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Roser, Traugott [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch der Krankenhausseelsorge. 5., überarb. u. erw. Aufl.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 600 S. m. 8 Abb. u. 5 Tab. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-3-525-61626-0.

Rezensent:

Michael Klessmann

Die fünfte Auflage dieses Handbuchs, herausgegeben von Traugott Roser, Professor für Praktische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, spiegelt in Umfang und Inhalt eindrücklich den tiefgreifenden Wandel der Krankenhausseelsorge und den hohen Grad ihrer Ausdifferenzierung – im Vergleich zur noch nicht einmal 25 Jahre zurückliegenden ersten Auflage von 1996, die mit etwa dem halben Seitenumfang auskam. Das Handbuch will eine Standortbestimmung leisten, indem Ziele, Konzepte und Arbeitsweisen der Seelsorge in der medizinisch-ökonomischen Institution Krankenhaus aus verschiedenen Perspektiven skizziert werden. Dabei zeigt bereits der Blick auf die thematische Vielfalt der Beiträge, um was für ein breit aufgestelltes Arbeitsgebiet es sich handelt. Das Gros der Artikel stammt von langjährigen evangelischen und katholischen Seelsorgenden im Krankenhaus, es kommen auch Vertreterinnen und Vertreter aus Fort- und Wei terbildung zu Wort, Repräsentanten der Krankenhausträger, aus Kirchenleitungen und aus Bezugswissenschaften wie der Sozio-logie; eine ökumenische Perspektive ist selbstverständlich, auch muslimische Seelsorge findet Berücksichtigung.
In einer ausführlichen Einleitung skizziert der Herausgeber bis­herige Leitbilder der Krankenhausseelsorge, »Seelsorge im Zwischenraum« (Klessmann), Seelsorge als »vierte Säule im Gesundheitswesen« (Schneider-Harpprecht); er fügt dann aus systemtheoretischer Sicht »Seelsorge als Hybrid« (Emlein) hinzu: Seelsorge als hybride Praxis, die zwischen Therapiecode und Religionscode oszilliert, »in der sich Psychotherapie, Sozialarbeit, Beratung und ge-nuine Seelsorge schon lange nicht mehr trennen lassen« (19, Zitat Emlein). So verstandene Seelsorge muss sich einerseits auf den Kontext Krankenhaus einlassen und Kontextkompetenz erwerben, andererseits kann sie die vom Krankenhaus vorgegebenen Systemgrenzen überschreiten und immer wieder umschalten von der Logik des Psychischen oder des Medizinischen zu der des Religiösen und umgekehrt. Krankenhäuser als Orte (bzw. »Nicht-Orte«, wie es der französische Anthropologe Marc Augé genannt hat), die durch ihre Funktionalität und Beziehungslosigkeit imponieren, werden durch Beziehungen und Kontakt in Räume transformiert, in denen auch strukturell, von der Organisationskultur her, die Würde der Menschen gestärkt werden soll. Von diesem Ausgangspunkt her bietet das Handbuch einen weit gefächerten Überblick, der in vier großen Teilen die vielfältige Theorie und Praxis der Krankenhausseelsorge skizziert.
Der einführende Teil bringt grundlegende Überlegungen zur Geschichte der Krankenhausseelsorge, zu den Begriffen Gesundheit und Heilung, zum Verhältnis von Seelsorge und spiritual care (ein Thema, das an vielen Stellen des Handbuches aufgenommen wird), zu Möglichkeiten religiöser Erfahrung angesichts des Leidens (Untröstlichkeit aushalten und sich falschen Trost verbieten), zur Rolle der Seelsorge aus soziologischer Sicht als Spezialisten für das Unspezifische, zu den Auswirkungen der Ökonomisierung des Krankenhauses auf die Seelsorge an diesem Ort, und ein Statement des Geschäftsführers der Helios GmbH: Er unterscheidet zwischen religiös und emotional orientierter Betreuung und folgert mit nüchterner Kalkulation: Erstere kann die Kirchen vorhalten und auch finanzieren, Letztere liegt im Interesse der Krankenhausträger und könnte von diesen getragen werden.
Im 2. und 3. Teil werden exemplarische Arbeitsfelder der Seelsorge im Krankenhaus und besondere Gruppen von Menschen, denen Seelsorgende häufig begegnen, vorgestellt: Seelsorge auf der Neugeborenen-Intensivstation, in der Kardiologie, Onkologie, Ge­riatrie und Palliativstation; Seelsorge mit suizidalen Menschen, mit Kindern und Jugendlichen, unter Bedingungen eingeschränkter Kommunikation, mit Sterbenden und Trauernden so­wie Mitarbeitenden usw. Jeder Beitrag enthält eine Falldarstellung, an­hand derer deutlich wird, welch hohes Maß an spezialisierter Kompetenz im Blick auf die Wahrnehmung der Situation, der Betroffenen und Zugehörigen und in der Zusammenarbeit mit dem Personal von den Seelsorgenden verlangt wird. Weitere Themen in diesem Rahmen: die Strittigkeit spiritueller Anamnese, spiritual care als Querschnittsaufgabe für alle Berufe im Krankenhaus und damit als Bestandteil der Unternehmenskultur (die sich als solche wiederum vermarkten lässt!), die wachsende Bedeutung von ethischen Themen im modernen Krankenhaus und, wie Seelsorge, die ihre ethische Kompetenz einbringt, sich stärker ins System integriert.
Im vierten, ausführlichsten Teil wird Seelsorge im Krankenhaus ausdrücklich als kirchliches Handeln in den Blick genommen: Fortbildungs- und Leitungsperspektiven werden vorgestellt, die Bedeutung von Ritualen für die Seelsorge bedacht, die unverzichtbare Rolle von Ehrenamtlichen, die komplexe Problematik einer Dokumentation durch die Seelsorge, die notwendige Zusammenarbeit zwischen Krankenhausseelsorge und Gemeinde etc. Zentral scheint mir der Beitrag von Sebastian Bork, »Krankenhausseelsorge am an­deren Ort«. Dieser Beitrag fungiert wie ein Scharnier zwischen den kirchen- und den krankenhausbezogenen Perspektiven und hätte insofern auch gut am Anfang seinen Platz gehabt. »Krankenhausseelsorge bedeutet: kirchliche Präsenz auf einem Feld, das nicht das eigene ist, unter Regeln, die nicht die eigenen sind, und konfrontiert mit Sprachen, die nicht die eigenen sind …« (527). Damit wird an der < /span>Krankenhausseelsorge exemplarisch, welche Aufgaben auf Kirche insgesamt in der säkularen Gesellschaft zukommen: eine angemessene Balance von Anpassung und Widerstand zu finden und an der Übersetzungsfähigkeit des eigenen Anliegens zu arbeiten. Tendenzen einiger Kirchenleitungen, Spezial- oder Kategorialseelsorge zu­gunsten der Parochialseelsorge hintanzustellen (von solchen Tendenzen ist im vorliegenden Band nur am Rand die Rede), erscheinen vor diesem Hintergrund kurzsichtig.
Ausführliche Person- und Sachregister erleichtern die Orientierung in der Vielfalt der Perspektiven dieses Handbuchs.
Der Blick der allermeisten Beiträge ist ein interner, also von Autorinnen und Autoren verfasst, die selbst im Bereich der Krankenhausseelsorge arbeiten; externe Perspektiven (wie die des Geschäftsführers der Helios Kliniken) könnten bei einer weiteren Auflage noch mehr Gewicht bekommen. Es wäre anregend gewesen, etwa die Sicht eines Mediziners und einer philosophisch-säkularen Seelsorge hinzuzufügen. Krankenhausseelsorge als kirchlicher Dienst im säkularen Krankenhaus und damit an der Zivilgesellschaft insgesamt braucht die kritische Sicht von außen!
Es gibt, wie in Handbüchern kaum vermeidbar, Überschneidungen (z. B. in der neutestamentlichen Begründung von Krankenseelsorge oder im Blick auf die Thematik von spiritual care). Manches klingt vollmundig-grundsätzlich, da hätte ich mir mehr Konkretion gewünscht (z. B. beim Thema Kirchenleitung und Krankenhausseelsorge: Im Hintergrund geht es doch um Verteilungskämpfe zwischen den Ressorts, um Prioritätensetzungen in der Frage, wie sich Kirche in der säkularen Gesellschaft aufstellen will). Trotz dieser Details: Wer sich aus welchen Interessen auch immer mit Krankenhausseelsorge beschäftigen will, kommt an diesem reichhaltigen und anregenden Handbuch nicht vorbei.