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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

1000–1003

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Knop, Julia [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Gottesfrage zwischen Umbruch und Abbruch. Theologie und Pastoral unter säkularen Bedingungen.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 344 S. = Quaestiones disputatae, 297. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-451-02297-5.

Rezensent:

Philipp David

Die Frage nach einer angemessenen Wahrnehmung der Auflösung einer ehemals selbstverständlichen Gottesgewissheit und ihrer ernsthaften Reflexion ist Thema des Sammelbandes: Weder werde heute die Gottesfrage als lebensrelevante Frage wahrgenommen noch ein »metaphysisches Defizit« (10) empfunden. Schließlich werde »religiöse Indifferenz […] zunehmend zum Signum unserer Zeit« (10) und die Gottesfrage sei lediglich ein Narrativ unter vielen möglichen Optionen, sich selbst und die Welt zu interpretieren. So diagnostiziert die Erfurter katholische Dogmatikerin Julia Knop in ihrer »Einleitung« (9–17) die gegenwärtige Herausforderung für kirchliche Verkündigung und Pastoral. Vor dem Hintergrund dieser Wahrnehmung fragen die zwanzig Beiträge (es sind 17 aus katholisch-theologischer Feder sowie jeweils ein Beitrag aus Religionssoziologie, Philosophie und Evangelischer Theologie) zum Teil auch nach Umgangsweisen mit der gegenwärtigen Situation. Entstanden sind die meisten Artikel anlässlich zweier Tagungen im 500. Reformationsgedenkjahr: »Wer braucht (noch) einen gnädigen Gott? Luthers Frage im Wechsel der Zeit« (September 2017 im Kölner Domforum) und »›Gott‹ oder: Was war eigentlich die Frage? Theologie nach dem Relevanzverlust ihres Gegenstandes« (November 2017 in Erfurt). Der Auftakt von Kurt Kardinal Koch, Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, würdigt die bleibende Bedeutung von Martin Luthers Suche nach einem gnädigen Gott vor den zeitbedingten geistesgeschichtlichen Hintergründen, der existentiellen Lebenserfahrung und der gegenwärtigen ökumenischen Situation, um dann die Liturgie als primären Ort der Gotteserkenntnis herauszustellen, da echte Rede von Gott immer Doxologie sei (36 f.).
Für die Veröffentlichung sind die folgenden Beiträge in vier Abschnitte gegliedert. Teil 1 (»Gott suchen – Gott finden. Gott denken. Die Gottesfrage im Wandel der Zeit«) bietet einen chronologischen Gang durch markante Ausprägungen der Gottesfrage von den biblischen Überlieferungen bis zur Reformationszeit: In der Rede von JHWH als König im Psalter erscheine Gott als Garant der Erhaltung und Wiederherstellung politischer und religiöser Ordnungen (Susanne Gillmayr-Bucher). Für den Apostel Paulus sei die entscheidende und lebensverändernde Gotteserfahrung seine Christusvision gewesen (Robert Vorholt). Im Innersten des Menschen, in seiner memoria, falle bei Augustinus in seinen Confessiones Gottes- und Selbsterfahrung des Menschen in eins (Notker Baumann). Die Gottesfrage als intellektuelles Problem fasziniere Anselm von Canterbury, wenn er in einer Doppelbewegung zu­gleich der Vernunft den Glauben an Gott zu erschließen als auch dem Glauben Einsicht in die Rationalität des Gottesbekenntnisses zu vermitteln suche, um so den Menschen an die Wirklichkeit Gottes heranzuführen (Martin Kirschner). Als konfessionsübergreifend bedeutsam für die Geschichte menschlicher Selbst- und Gotteserfahrung gelte Luthers Entdeckung der wahren, den Menschen neu schaffenden Gerechtigkeit Gottes sowie seine Inkarnations- und Kreuzestheologie (Friederike Nüssel).
Mit »Religionssoziologischen Überlegungen zu Säkularisierung und Relevanzverlust von Religion als Triebkraft für ein Verblassen von Gott in der Gesellschaft« (Gert Pickel) startet Teil 2 (»Typisch modern? Anthropologische Prämissen der Gottesfrage«), um die modernen Transformationen in der Gottesfrage herauszustellen. Empirische Befunde zeigten, dass nur ein sehr geringer Anteil der sogenannten Konfessionslosen religiös auf der Suche sei, was nicht zuletzt die vielfach wiederholte Vorstellung von der Religion als anthropologischer Konstante infrage stelle, die die humane Relevanz von Religion und gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen stützen sollte. Gleichzeitig sei ein Rückgang im Wissen vom Chris-tentum und ein Tradierungsabbruch im Glauben zu verzeichnen, was nicht zuletzt Rückschlüsse auf die Wichtigkeit der sozialen Seite von Religion für den Erhalt des Glaubens ermögliche: »Einfach gesagt: Kein dauerhafter und vertiefter Glaube ohne soziale Anbindung!« (125). Die dem Christentum innewohnende »Prosozialität« (128) wird hier als Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Kirchen herausgestellt. Doch es gilt wohl auch, dass der Theologie mit der religiösen Indifferenz (Eberhard Tiefensee) ein schwer fassbares Phänomen gegenüberstehe, für das keine eingeübten Argumentationsmuster bereitstünden. Zuversicht für eine neue Ausrichtung der Gottesfrage biete aber eine »theologische Hermeneutik der Erfahrung«, »in der die vierdimensionale Dynamik von erlebter Situation, präreflexiver Erfahrung, individueller Artikulation und kulturellen Deutungsmustern« (144) als »Anknüpfungspunkte« dienen. Die »Leerstelle«, die Gott hinterlassen habe, könne aber auch anders gefüllt werden ( Veronika Hoffmann), wenn die Frage nach der anthropologischen Relevanz des Glaubens angesichts eines »›nondogmatischen Agnostizismus‹ religiöser Indifferenz« (147) jenseits von Unterstellungen und Erfahrungsferne im Anschluss an Charles Taylor mit »Fülle« als »anthropologische Richtungsangabe« neu gestellt werde. Eine »religiös imprägnierte Anthropologie« (174) und ihre zu problematisierende Verwendung in Gaudium et Spes sowie in transzendentalphilosophischen Plausibilisierungsver-suchen der Gottesrede ist Ausgangspunkt der Frage »Gott: Ein Menschheitsthema?« (Julia Knop), um zu zeigen, dass Theologie als scientia fidei »rationale Verantwortung einer Option« (177) und keine allumfassende Philosophie und Anthropologie sei. Gegen eine Verzweckung und Vereinnahmung sowie für eine entlastende »konstruktive[] pastorale[] Gelassenheit« (195) statt eines Verfalls in »pastorale Vergeblichkeit« (180) plädiert der in den Niederlanden lehrende Jan Loffeld.
Klar positioniert sich Rainer Bucher zu Beginn von Teil 3 (»Die Gottesfrage nach dem Verlust ihrer Bedeutsamkeit: Neuverortungen von Theologie und Pastoral«), der die alten katholischen Strategien zur Auseinandersetzung mit der säkularisierten Welt in kapitalistischen Zeiten für hinfällig erachtet und eindrucksvoll dafür plädiert, Theologie an neuen Orten zu entdecken (am Krankenbett von Müttern, deren Kinder im Mutterleib gestorben sind). Auch die ungebändigte Macht des Kapitalismus und seiner Götter und Dämonen seien deutlicher zu benennen und zu entlarven. Benjamin Dahlke analysiert Notwendigkeit und Grenzen des Ineinanders von fundamentaltheologischer Grundlegung und dogmatischer Darlegung der Glaubenslehre im Ausgang von Karl Rahner und mit Ausblick auf Sarah Coakleys nichtreligiöses Universal »desire«. Florian Baab greift kritisch eine aktuelle kontroverse De­batte um die Objektivitätsansprüche der analytischen Theologie auf. Die beiden folgenden Beiträge nehmen pastoraltheologische Impulse aus Frankreich auf: Tobias Kläden sieht Chancen der Säkularität in einer pastorale d’engendrement im Blick auf die Dienstleistung der Kirche und ihre »Botschaft eines radikalen Gutseins«. Bernhard Spielberg sieht in der Ent-Täuschung über alte Gottesbilder ein »theologiegeneratives Potenzial« (270) für eine Gnadentheologie.
In Teil 4 »Gott jenseits seiner Notwendigkeit« werden »Gnadentheologische Konturen der Gottesfrage« hermeneutisch weitergedacht und an Luthers Lebensthema »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?« angeschlossen. Michael Schüßler spürt angesichts von Eschatologieverlust, Selbstoptimierungsimperativen und Versagensängsten sowie seiner instruktiven Deutung der Verschiebung der Gnadenerfahrung von Gott über Kirche in den Körper diesen Herausforderungen für die theologische Kreativität nach, um Orte neu zu (er)finden, »wo jeglicher Druck mal ein Ende hat«, und um zu zeigen, dass sich Gnade heute in Ereignissen zeigt, in denen die körperlich-seelische Verletzbarkeit des Lebens geteilt wird. Dorothea Sattler denkt über das Verhältnis von Gottes Gnade und Gottes Gericht nach, konkretisiert dies mit Blick auf die Ablassfrage und nennt als Frage unserer Zeit: »Wo finden wir angesichts dieses Gottes Menschen, die einander gnädig sind?« Hans-Joachim Höhn wirbt für eine theologische Diskursstrategie einer »Kunst der Bestreitung«, die die religiöse Forcierung des Atheismus aufdeckt und aporetische Diskursstrategien im Umgang mit der Religionskritik entlarvt sowie das Wahrheitsmoment des neuen Atheismus ernst nimmt: Nämlich abgesehen von Auffassungen einer innerweltlichen Notwendigkeit oder Nützlichkeit von der Wirklichkeit Gottes zu reden, um »Gott nicht ohne eine Welt zu denken, deren Verfassung und Selbstverständnis es notwendig machen, die Welt ohne Gott zu denken« (320) und so für eine »Logik wohltuender Grundlosigkeit« (322) zu plädieren. Auch Jürgen Werbick will die apologetische Defensiv-Position verabschieden und mit einer Korrelationsdidaktik Gott selbstverständlich Gott sein lassen.
Der Band dokumentiert anlässlich von 500 Jahren Reformation und Luthers Frage nach einem gnädigen Gott eine lebhafte Debatte in der Katholischen Theologie (!), die die Herausforderungen von religiöser Indifferenz und Relevanzverlust von Kirche und Gott im säkularen Zeitalter nicht mehr übersehen kann und mit der Platzanweisung der Katholischen Kirche als Option unter Optionen offen ringt. Dabei suchen die Beiträge die tiefgreifende Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise der Institution Kirche zu beschreiben, ihre vereinnahmende Rede von Gott und Mensch aufzude-cken, Korrekturen anzumahnen und Zukunftsfragen jenseits von binnenkirchlichen Selbstvergewisserungsfloskeln zu stellen: auch durch die Entdeckung einer Theologie an neuen Orten.