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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

977–980

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rasmussen, Joel D. S., Wolfe, Judith, and Johannes Zachhuber [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Oxford Handbook of Nineteenth-Century Christian Thought.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2017. XVIII, 718 S. Lw. US$ 150,00. ISBN 978-0-19-871840-6.

Rezensent:

Martin Ohst

Ein Handbuch ist nach gängigem deutschen Sprachgebrauch eine Sammlung von Einführungen in die unterschiedlichen Sektoren eines größeren Gegenstandsbereichs, die Grundwissen vermitteln und darüber hinaus den Zugang zu den Quellen bahnen sowie Einblicke in Forschungsdebatten eröffnen. Ein solches Handbuch über das christliche Denken im 19. Jh., das hier durchgängig als »langes«, also von der Französischen Revolution bis zum I. Weltkrieg sich erstreckendes, verstanden wird (vgl. z. B. 674.591), ließe sich wohl noch einigermaßen bequem realisieren, wenn man den Gegenstand so eng wie möglich fasste, nämlich als »the expression of the teaching of the Churches«, (so M. Chapman in seinem Beitrag über politische Transformationen, 37). Diese restriktive Vorgehensweise verfolgt das vorliegende Werk jedoch nicht. Vielmehr fasst es seinen Bereich so extensiv wie möglich, indem es neben herkömmlichen Themen aus Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften in kulturalistischer Manier auch auf Materien ausgreift, die man herkömmlicherweise eher der Mentalitäts- oder Sozialgeschichte zuschlagen würde. So wächst der Stoff ins Unermessliche.
Wie bekommt man ihn so in den Griff, dass nicht nur Faktenberge beziehungslos nebeneinanderstehen? Wenn man R. Morgans Beobachtung »English religious thinking is usually found in literature not in dogmatics« (603) als weitere hermeneutische Überlegungen eröffnende Beobachtung ernst nähme und sich von ihr leiten ließe, dann läge es nahe, die Darstellung als ein Nebeneinander von mehreren nationalen und/oder konfessionellen Längsschnitten zu organisieren. Die müssten dann noch einmal durch gemeinsame strukturierende Leitfragen miteinander verbunden werden, d. h., es müssten Vergleichspunkte aufgesucht bzw. konstruiert werden, welche ganz unterschiedliche Phänomenbestände sinnvoll aufeinander beziehbar machten. Darauf haben die Herausgeber verzichtet. Stattdessen haben sie versucht, ihrem Unternehmen durch sechs übergeordnete Leitthemen Struktur und Zusammenhalt zu ver-leihen.
Den Anfang machen drei sehr hochstufige allgemeine Untersuchungsperspektiven: Auf »Wechselnde Paradigmen« folgen »Das Wesen des Menschen und das Wesen der Religion« und endlich »Kultur und Gesellschaft«. Das zweite Ternar fasst dann die Christenheit ins Auge, und zwar »Die Christenheit und die Künste«, »Die Chris-tenheit und die Christentümer« sowie »Themen der Lehre«. In diese Rubriken sind insgesamt vierzig Essays eingeordnet; die Verfasser behandeln die ihnen zugewiesenen Themen jeweils so, wie es ihren bisherigen Interessen und Arbeitsweisen entspricht; vielfach reproduzieren sie einfach den Ertrag bisheriger Arbeiten, ohne sich groß um den Kontext eines solchen Handbuchs zu scheren: So beschreibt Johannes Zachhuber in der ersten Sektion »The Historical Turn« (53–71) in einem brillanten Essay, in dem er eine eigene Monographie kondensiert, als rein deutsches, protestantisches Phänomen in seiner zeitlichen Erstreckung von Schleiermachers »Reden« bis zu den rebellischen Enkelschülern Albrecht Ritschls auf einer sehr hohen Abstraktionsebene – nur sehr schattenhaft kommt der zentrale materiale Gegenstand in den Blick, an dem die Probleme und Thesen sich ausbildeten, nämlich die Geschichte des Urchristentums. Dieses Thema taucht dann unversehens an ganz überraschender Stelle wieder auf, nämlich bei Halvor Moxnes, der »Nation/Nationalismus« (246–263) abhandelt, indem er einige Thesen und Ergebnisse seiner Monographie wiedergibt, in der er den Versuch unternommen hat, die Frage nach dem historischen Jesus als Wendung des zivilreligiösen Interesses hin zum menschlichen Individuum und seinen Partizipationsrechten in seiner sozialen Lebenswelt zu dekodieren. Diese These wird kurz entfaltet (246–249) und dann an Exempeln durchprobiert – zuerst natürlich an Deutschland. Der Versuch, Schleiermachers »Leben Jesu« als Grundlagendokument modernen deutschen Nationalbewusstseins zu deuten, wird wohl nur Leser überzeugen, die, wie offenbar der Autor selbst, weder Schleiermachers als Kulturtheorie entfaltete Ethik noch seine durchaus zahlreichen eigens den Themen »Nation« und »Staat« gewidmeten Texte kennen. Es folgen Kurzdurchgänge zum Römischen Katholizismus, zu Großbritannien, zu Dänemark, zur Orthodoxie und zu den USA, und da ist die ambitionierte Eingangsthese denn auch schon vergessen: Das Kapitel endet mit einer gänzlich konventionellen Zusammenfassung. Die von Zachhuber angedeuteten konkreten historischen Fragen kehren dann nochmals in dem Abschnitt »Christus« in der Sektion »Themen der Lehre« von Robert Morgan (591–609) wieder, allerdings werden auch hier die exegetischen Fragen lediglich als Anhängsel dogmatischer Erörterungen traktiert, und die kritische Erforschung der Dogmengeschichte von Semler über Baur zu Harnack wird nicht so gewürdigt, wie es ihrem sachlichen Gewicht entsprochen hätte. So finden sich in dem Band viele inhaltliche Überschneidungen, die einander aber nicht komplementär ergänzen.
Bisweilen stehen Artikel, die einem gemeinsamen Erörterungszusammenhang angehören, ganz erratisch nebeneinander; ein Beispiel: Daniele Menozzi behandelt »Roman Catholicism« in Konzentration auf die päpstlichen Stellungnahmen zur heraufziehenden Moderne (485–503). Annette G. Aubert stellt ihren Parallelbeitrag über den Protestantismus unter die (mehr als fragwürdige) Leit-these: »Slowly a new view of Protestantism emerged, replacing that of Protestantism as a ›church institution‹ with one of Protestant theology as a science« (505), und folgerichtig gibt sie einen stichwortartigen Bericht über wichtige Positionen der (Systematischen) Theologie in Deutschland mit wenigen Seitenblicken in die angelsächsische Welt. Frances Knight stellt den Anglikanismus zunächst in zwei distinkten Durchgängen institutionen- und theologiegeschichtlich dar und wendet sich dann seiner Selbsteinordnung in die weltweite Christenheit zu (524–539). Was einem solchen Sammelwerk gegenüber herkömmlichen kirchen- und theologiegeschichtlichen Überblicksdarstellungen einen Vorteil verschaffen könnte, nämlich das Eröffnen komparatistischer Perspektiven, bleibt dem geneigten Leser überlassen – und es wird ihm durch eine Konfiguration wie die eben geschilderte eher erschwert denn erleichtert.
Wenn ein Leser sich zu den begeisterten Protagonisten des angeblich oder tatsächlich angebrochenen postnationalen Zeitalters rechnet, dann freut er sich vielleicht, dass, schenkt man den Überschriften Glauben, die nationalen Schranken herkömmlicher Darstellungen in diesem Handbuch überwunden sind. Aber diese Freude verfliegt schnell, wenn er merkt, dass die alten nationalkulturellen Wahrnehmungsperspektiven so lebendig sind wie eh und je; ich nenne drei hervorstechende Beispiele; einmal: Johannes Zachhuber (s. o.) beschreibt die Entstehung und Entwicklung des Historismus ohne jeden Bezug auf englisch- oder französischsprachige Beiträge als rein deutsches Phänomen. Zweitens: Martin Halliwells Beitrag »Race and Emancipation« (358–373) ist ausschließlich den Kämpfen der Afroamerikaner in den USA gewidmet; eine kleine Bemerkung darüber, dass Vorkämpfer der Emanzipation der Schwarzen durchaus Vorbehalte gegen die Zuwanderung von Juden (und Katholiken) geltend machen konnten (369), zeigt, dass Menschen, die hier auf der »richtigen« Seite standen, in anderen Beziehungen durchaus in einer Weise dachten und argumentierten, die heute dem Rassismus-Verdikt verfiele: Der aktuell ideenpolitisch allenthalben als Vernichtungswaffe gehandhabte Kampfbegriff des »Rassismus«, der vom Standpunkt eines radikalen, individualistisch-egalitären »Antirassismus« her konstruiert ist und von ihm seine Plausibilität bezieht, ist als Deutebegriff für die komplexen mentalen und intellektuellen Weisen der Konstruktion, Deutung und Bewertung biologischer und historisch-kultureller Diversitäten im 19. Jh. viel zu grob und pauschal. Endlich: Das Kapitel über Romane (Andrew Tate, The Novel, 413–423) beschäf-tigt sich ausschließlich mit britischen Autoren – dass Flauberts »Madame Bovary« einmal en passant genannt wird (416), verstärkt den Gesamteindruck nur.
Wer nach zeitgeistaffinen Themen sucht, wird jedoch nicht enttäuscht; so kommt in der zweiten Sektion selbstverständlich das Thema »Gender« ausführlich zur Sprache (Lori K. Pearson, 143–159; auffällig auch hier die Konzentration auf Deutschland und auf Schleiermacher); in der zweiten Auflage wird dann sicher auch die Migration die ihr gebührende Beachtung finden. Ernstlich vermisst hingegen habe ich einen Artikel zum Thema »Armut (und Reichtum)«, denn dieses Thema hat doch frömmigkeits- und kirchengeschichtliche Konnotationen, die unter der Überschrift »Capitalism and Socialism« (264–281) noch längst nicht abgegolten sind: In der Christenheit des 19. Jh.s spielte ja freiwillige Armut durchaus noch eine Rolle – man denke etwa an die Wiederbelebung alter und die Begründung neuer Formen monastischen Lebens im Römischen Katholizismus! Und es wurden religiös und theologisch hochstufige Überlegungen dazu angestellt, wie mit Reichtum als göttlichem Segen und als religiös-sittlicher Aufgabe angemessen und heilsam umzugehen sei.
Was macht das vorliegende Handbuch trotz der bisher aufgezeigten Disparitäten zu einem Ganzen, das mehr ist als die bloße Summe seiner Teile? Die Antwort gibt der Darstellungsgestus: Die Themen und Gegenstände werden als Kulturphänomene einer entrückten Vergangenheit wahrgenommen, wobei die Deutungs- und Bewertungsmaßstäbe dezidiert gegenwärtige sind. Die in herkömmlichen frömmigkeits-, theologie- und kirchengeschichtlichen Darstellungen doch eigentlich immer mitschwingende Frage des Autors nach seinem oder dem seiner Generation wie auch im­mer vermittelten Verhältnis zu den dargestellten Phänomenen bleibt durchgängig ungestellt, und deshalb sind die Darstellungen kühl-distanziert. Und um sie vor dem Abgleiten in reine Langeweile, die unzertrennlich treue Gefährtin des Positivismus, zu bewahren, sind sie in einer feuilletonistischen Manier verfasst, die ihre gern etwas süffisant stilisierte Überlegenheitsattitüde in Modebegriffen und Neologismen zum Ausdruck bringt.
Insgesamt arbeiten die Verfasser auf schwindelerregend hohen Abstraktionsniveaus, aber sie scheuen doch das freihändige Agieren und Formulieren, weshalb sie auf freigiebigste Weise Bezüge auf Forschungsliteratur in ihre Texte einstreuen. Manche Beiträge lesen sich weithin wie Literaturberichte, allerdings derart verknappte, dass die kritischen Bemerkungen kaum nachvollziehbar sind: Auf den Sachgehalt ganzer Monographien wird in beiläufig-lässigen Halbsätzen hingewiesen. Und weil wie die Forschungsliteratur auch die Quellen in Klammerbemerkungen mit Autornamen und dem Erscheinungsjahr der benutzten Edition angeführt werden (»Schleiermacher 1996« indiziert beispielsweise eine englische Ausgabe der »Reden«), ergibt sich dort, wo mit Quellentexten gearbeitet wird, die nicht zu den allbekannten Klassikern gehören, ein heilloses Kuddelmuddel, das den Leser zur Verzweiflung treibt, wenn er sich nicht die Mühe macht, unausgesetzt zwischen Text und Bibliographie hin- und herzublättern. Fußnoten, die feinere Abstufungen zwischen Argumentationsebenen ermöglichen würden, gibt es nämlich nicht. Warum man in einer Zeit, in der Anmerkungsapparate so mühelos und kostengünstig zu realisieren sind wie nie zuvor, in dieser Weise malträtiert wird, ist mir schlechterdings unerfindlich geblieben.
Es handelt sich also, wie gesagt, nicht um ein Handbuch in des Wortes herkömmlichem Sinne. Was ist es dann? Nun, man tut ihm keine Unehre an, wenn man es als »Coffee Table Book« bezeichnet, also ein Werk, das nicht auf ausdauerndes, kontinuierliches Lesen berechnet ist, sondern auf Konsum in müßigen halben Stunden – man lässt es im Wohn- oder Arbeitszimmer liegen und genehmigt sich bei passender Gelegenheit hin und wieder ein Kapitel. Ich jedenfalls bin so verfahren, nachdem ich zunächst bei dem Versuch, das Buch ganz konventionell von vorne nach hinten durchzulesen, kläglich gescheitert war. Und auf diese Weise habe ich dann vieles gelernt – gemäß dem Ertrag von Paul Heintzmans Essay über »Recreation and Leisure« (232–340), der herausarbeitet, dass im englischen und nordamerikanischen Protestantismus sowie auf dessen schwarzafrikanischen Missionsfeldern auch die Freizeitgestaltung als ein Lebensbereich gewertet wurde, welcher, richtig organisiert, einen gewichtigen Beitrag zur Herausbildung der arbeitswilligen und leistungsfähigen Persönlichkeit liefert.