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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

970–972

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Eberhardt, Kai-Ole

Titel/Untertitel:

Vernunft und Offenbarung in der Theologie Christoph Wittichs (1625–1687). Prolegomena und Hermeneutik in der reformierten Orthodoxie unter dem Einfluss des Cartesianismus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 512 S. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 164. Geb. EUR 120,00. ISBN 978-3-525-57312-9.

Rezensent:

Walter Sparn

Dieser zweite, systematische Teil einer Dissertation über Christoph Wittich, deren geschichtlicher Teil 2018 erschien, rekapituliert in Kapitel 1 (7–74) vor allem den Forschungsstand, auch der neuen Schule der Orthodoxie-Forschung (24 ff.), die Präzisierung der Begriffe »Orthodoxie« (33 ff.) und »Scholastik« (37 ff.) sowie des nur relativen Gegensatzes von »Aristotelismus« und »Cartesianismus« (45 ff.). Kai-Ole Eberhardt skizziert erneut das cartesianische Gelehrtennetzwerk, die theologischen Richtungen in den Niederlanden und beider Thema: die Autorität der Bibel (56 ff.). Eine biographisch-werkgeschichtliche Einführung fasst die bisherige Ar­beit zusammen (59 ff.). Der hier schon stattliche Apparat wird im Folgenden noch umfänglicher.
Kapitel 2 (75–109) stellt die »cartesianische Theologie« (der Vf. verwendet diese Fremdbezeichnung) im Spiegel der evangelischen Dogmatik des 20. Jh.s dar, die den Anthropozentrismus der modernen Theologie der Verbindung von Protestantismus und Cartesianismus zuschrieb (79 f.). Der Vf. widerspricht A. Schlatter (81 ff.), K. Barth (87 ff.), H. Thielickes Verallgemeinerung »cartesianischer« Theologie (97 ff.) und E. Jüngels These der Zersetzung der Gottesgewissheit durch Descartes’ Gottesbeweis (100 ff.). Erst G. Ebelings Vergleich zwischen Descartes’ »Zweifel« und Luthers »Anfechtung« votiere dafür, Descartes neu zu lesen (93 ff.). Das rate auch W. Pannenberg, der Descartes’ Neuansatz bei der Intuition des Unendlichen hervorhebe (104 ff.). Der Vf. erwartet, dass Wittichs cartesianische Theologie jene »Anfragen« zurechtrücken kann, und nimmt das mit Vorblicken auf Wittich auch schon vorweg (106 ff.).
So motiviert analysiert Kapitel 3 (11–292) das gesamte Œuvre Wittichs im Blick auf die Prolegomena in seinem System und arbeitet umfassend den Stand der (reformierten) Forschung ein. Für (2.) die frühorthodoxe Formierung des Konzepts der Theologie als praktischer Wissenschaft folgt er noch der Sicht R. Mullers (112 ff.) und verkürzt die wissenschaftskonzeptuelle Breite der Frühorthodoxie, deren Annahme »eingeborener Ideen« gerade für Wittich elementar ist. Die Eingrenzung der Streitsache auf den Umfang des theologischen Vernunftgebrauchs belegen (3.) S. Maresius, erst Lehrer, dann Gegner Wittichs, und G. Voetius von der Nedere Reformatie (121 ff.). Wittich steht (4.) in einem cartesianischen Netzwerk, das philosophisch geprägt ist durch Descartes’ Methodologie und J. Claubergs Logica nova, die eine hermeneutische Akkommoda-tionstheorie für strittig gewordene Bibeltexte entwickelt (139 ff.), theologisch durch L. van Velthuysen, F. Burman und A. Heidanus, vor allem J. Coccejus. Der Vf. macht ihn zwar nicht zum Cartesianer, behandelt ihn aber als »zentrale(n) Dialogpartner« der »Coccejo-Cartesianer« (169 ff.). Der Vf. analysiert (5.) Wittichs Korrelation von Vernunft und Schriftoffenbarung. Das Besondere an Wittich sei die »apologetische Grundstellung«, die eine »Gratwanderung« erfordere zwischen der »philosophischen Analyse Descartes’ aus der Perspektive des Theologen« und dem »Weiterdenken von dessen Philosophie im Kontext eines eigenen dogmatischen Systems« (195). Der Vf. betont Wittichs »Emanzipation der Vernunft« und seinen »Optimismus« des Erkenntnisfortschritts: die »Trennung« von Philosophie und Theologie als zweier gleichberechtigter Wege sicherer Erkenntnis mittels des Lichts der Vernunft bzw. der Autorität des glaubwürdigen Zeugnisses des Heiligen Geistes (197 ff.). Wittich sieht auch gegenseitigen Nutzen, tabu ist die Einmischung der Philosophie z. B. in die Trinitätslehre, aber auch die umgekehrte Einmischung z. B. in die naturphilosophische Frage des Heliozentrismus (227 ff.). Das cartesianische Wahrheitskriterium ( clare et distincte percipere) und die Methode des Zweifels gelten nicht nur in der natürlichen Theologie, sondern ebenso auch in ihrem Überbau, der offenbarten, insofern zwar nicht das Glaubensmysterium selbst, wohl aber eine biblische Aussage darüber sich klar und deutlich als Offenbarungswahrheit erkennen lässt (236 ff.). Der Vf. hält das jedoch nicht für rationalistisch, weil Wittich die »offenbarungstheologische Dimension der Vernunft« nicht ausblendet: ihren »Verzicht« auf wahre Gotteserkenntnis (und Freiheit des Willens) im Sündenfall und ihre gnadenhafte Erneuerung durch den Heiligen Geist im Glauben. Wittichs Pneumatologie beschreibt die Wirkung des Geistes sowohl im rationalen Erwerb der fides historica (die recta ratio ist also eine »Form von Offenbarung«) als auch, darauf aufbauend, jenseits der Vernunft im Mysterium der fides salvifica (257 ff.).
Der Leser kann Wittichs Versuch, cartesianische Philosophie und reformierte Orthodoxie zu harmonisieren, in seiner Logik hier gut nachvollziehen; die »Ergebnisse und kritische[n] Anfragen« des Vf.s (190–195.284–292) verunklaren das leider bedenklich. Vor allem bleibt unklar, was als lebenslange Maßgabe Wittichs, die »strikte und konsequente Trennung« der aus ihrer Magd-Rolle emanzipierten Philosophie von der Theologie bedeutet, wenn ihre »methodische und inhaltliche Öffnung füreinander« bei »gleichberechtigter Freundschaft« im »großzügig« bemessenen Mischbereich von Vernunft- und Offenbarungserkenntnis klar am Tage liegt. Die Asymmetrie zwischen der angeblichen Dominanz der Offenbarung und der eindeutigen Universalität des cartesianischen Wahrheitskriteriums wird einerseits herabgestuft bis zur »philosophischen Färbung« der Theologie oder zum Fehlen des »theologischen Fingerspitzengefühls«; andererseits notiert der Vf. wegen der Abhängigkeit theologischer Entscheidungen von philosophischen Vorentscheidungen (zu Recht) die »durchaus rationalistische Prägung« und einen »völlig unbiblischen Wahrheitsbegriff« Wittichs (287 f.). Die gelegentliche Kritik am Gebrauch von »Prinzip« übersieht, dass die Annahme prinzipieller Trennung von Philosophie und Theologie bloße Beteuerung wird, wenn mit »Vernunft« und »Offenbarung« zugleich die spezifischen Inhaltsbereiche »Welt« und »Heilsweg« (285) gesetzt sind, die zwar nicht koextensiv, aber nicht getrennt sind, sondern eben einen »Mischbereich« bilden (zu dem z. B. auch die Abendmahlslehre gehört, 228).
Der Vf. tut daher gut daran, die Arbeit Wittichs an der »Schei-delinie« der so »eng verwobenen« Disziplinen (193) dort zu prüfen, wo das wirkliche Verhältnis ihrer Prinzipien zutage tritt: in der Schriftauslegung. Die Analyse der Hermeneutik Wittichs als Zentrum cartesianischer Theologie in Kapitel 4 (293–383) weist die Richtigkeit der (alten) These nach, dass die Annahme der Akkommodation biblischer Texte an ihre einstigen Hörer und die exegetische Fokussierung auf ihren Skopus den Wissenskonflikt zwischen unabhängiger Naturphilosophie und autoritativer Bibel schlichten will; zum Vorteil beider. Theologie wird von der physica Mo-saica entlastet – ein zentraler Schritt auf dem Weg zur historisch-kritischen Exegese. Der Vf. folgt (2.) den Hinweisen Wittichs auf die Vorgeschichte der Akkommodationsthese von der Alten Kirche (296 ff.) bis zu ihrem Gebrauch in der Debatte um den Heliozentrismus (315 ff.). Wittich selbst baut, anders als Descartes’ Rückzug auf bloße Hypothesen, (3.) die im opinio-Argument gebündelte Akkommodationsfigur und die Skopusexegese stark aus, zunächst mit der Logik Claubergs (331 ff.), später pneumatologisch im Blick auf den auf den historischen Kontext der Texte und den Transfer ihrer Akkommodation auf die homiletische Regel, dass der biblische Stil zum Stil des Theologen werden soll (363 ff.). Hier sieht der Vf. nicht apologetische Strategie am Werk, sondern Wittichs orthodoxes Bekenntnis: Wittich beschreite einen Weg, der zwar auch zu B. de Spinoza führen konnte, auf dem er jedoch die Bibel »mit der genuin christlichen Perspektive des Glaubens ins Gespräch (bringt)« (380.383). Kapitel 5 (385–415) skizziert (1.) weitere Forschungsfelder an der Schnittstelle von reformierter Orthodoxie und cartesia-nischer Philosophie (385).
Auch wenn der Rezensent meint, dass der Vf. die aufklärerische Relevanz Descartes’ zu hoch ansetzt, hat er gegen die Analyse von Wittichs voluntaristischer Gotteslehre, dualistischer Anthropologie und fortschrittlicher Geschichtstheologie nichts einzuwenden – aber bitte im interkonfessionellen Vergleich! Der Vf. bündelt (2.) seine Gesamtwürdigung (401 ff.) in vier Thesen über den Cartesianer: seine Akkommodationshermeneutik »(unterläuft) sowohl die Trennung von Philosophie und Theologie als auch die Abgrenzung gegenüber dem Rationalismus«, in seiner Exegese wird die Vernunft zum »archimedischen Punkt« (410). Dennoch lasse er »rationalistische Tendenzen letztlich immer hinter sich«: Biblische Heilswahrheit und Unverfügbarkeit des Glaubens bleiben von der Vernunfterkenntnis ausgenommen – »formal« (411.414). Der Vf. sagt immerhin gelegentlich, dass Wittich »cartesianischen Vernunft-positivismus« mit »Offenbarungs- und Schriftpositivismus« verbinde (290).
Der verdienstvolle Anhang Kapitel 6 (417–512) bietet eine vollständige, nach Briefen, Drucken und Wirkungsorten Wittichs gegliederte Bibliographie, Literatur vor 1800 und nach 1800. Personen-, Sach- und Stellenregister (Bibel, Descartes, Wittich, 465 ff.), Gliederungen ausgewählter Schriften Wittichs (497 ff.) und Zeittafel (510 ff.) fehlen nicht.