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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

960–962

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Perler, Dominik

Titel/Untertitel:

Eine Person sein. Philosophische Debatten im Spätmittelalter.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Verlag Vittorio Klostermann 2020. XI, 502 S. = Philosophische Abhandlungen, 119. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-465-04409-0.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Die Frage nach der Natur einer Person hat die Philosophie immer wieder beschäftigt. Nicht erst in der Neuzeit (Locke), sondern schon im 13./14. Jh. hat diese Frage zu scharfsinnigen Untersuchungen geführt, geleitet von sowohl theologischen als auch anthropologischen Interessen. Diese Debatte untersucht Dominik Perler und macht deutlich, wie sich diese bis in die Gegenwart auswirkt. Er sieht, dass die Person drei Dimensionen hat, eine metaphysische, eine psychologische und eine handlungstheoretische, und dass diese aber letztlich eine Einheit bilden. Bei der metaphysischen Dimension sieht er Konstitutions- und Identitätsprobleme, bei der psychologischen Dimension Reflexions- und Erinnerungspro-bleme, bei der handlungstheoretischen Dimension Freiheits- und Verantwortungsprobleme, die zu klären sind.
P. geht fast immer in seiner Darstellung von Thomas von Aquin aus, als seine Gesprächspartner – von Kontrahenten wird man kaum sprechen können – nennt er vor allem Heinrich von Gent, Johannes Duns Scotus, Petrus Johannes Olivi, Richard von Mediavilla und Wilhelm von Ockham. Es fällt dabei auf, welche Denker er nicht in seine Untersuchung einbezieht, so Albertus Magnus, Bonaventura, Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart, ja, die Mystik wird überhaupt nicht erwähnt. Hat nicht auch sie zu dem Thema Erhebliches beigetragen? Zwar begründet P., warum er sich auf die Zeit von 1256 bis 1324 beschränkt (20), aber nicht seine Auswahl der Denker.
Auf die einfache Frage, was eine Person sei, geben die mittelalterlichen Denker eine recht komplexe Antwort. Sie setzen bei der metaphysischen Dimension an und bestimmen die »Person als eine individuelle Substanz mit einer rationalen Natur«. Diese ermöglicht eine Reflexion und bringt Überzeugungen hervor, so dass sie sie sich für Handlungen entscheiden kann, für die sie die Verantwortung trägt. Die Denker untersuchen jede dieser Dimensionen gründlich und sind damit »heute noch philosophisch anregend« (449.461), wobei die Theologie als Sprungbrett für die philosophische Debatte diente, nämlich die biblische Aussage von der Gottebenbildlichkeit des Menschen (vor allem bei Olivi, 375). Von der altkirchlichen Bestimmung der Trinität (»tres personae, una substantia«) und von Augustin und Boethius ausgehend wird die Person immer als ein Individuum gesehen, das aktiv tätig ist.
Wenn man auch die Philosophen in Unitaristen und Pluralisten unterteilen kann, so haben doch letztlich beide trotz ihres hartnäckigen Streites über Jahrhunderte hinweg sowohl die Einheit als auch die funktionale Vielfalt der Person aufgrund ihrer rationalen Natur, die sie selbstbestimmt handeln lässt, erkannt (19.86). Für beide ist die Person ein konkretes Lebewesen, ein rationales Individuum (92). Wichtig ist den Philosophen, was die Person bei der Auferstehung ist. Kehrt numerisch derselbe Mensch bei ihr zurück? Nach Ockham geschieht dies, »weil die intellektuelle Seele, die eine einfache Form ist, im Ganzen und in jedem Teil verbleibt« (95). Nach den Unitaristen – wie Thomas – erhält jede Person genau den individuellen Körper zurück, den sie bereits vor dem Tod hatte (117). Für die Pluralisten (Ockham, Richard) gilt dies zwar auch, aber sie betonen, weil sie nicht auf eine dauernde Form verweisen, dass, wenn die Materie zugrunde geht, auch die Formen zugrunde gehen, doch müssen alle Formen wieder präsent sein, damit die gesamte Person existiert. Die Auferstehung wird nicht als Neuschaffung, sondern als Wiederbeschaffung verstanden. Beide Richtungen müssen sich mit den kirchlichen Vorgaben auseinandersetzen und zu klären versuchen, wie die individuelle Auferstehung möglich ist und wie die auferstandene Person mit der jetzt existierenden identisch sein kann (138.146.151.155 f.).
Zur psychologischen Dimension heißt es: »Wenn die Seele auf sich reflektiert, erfasst sie sich selbst als Subjekt aller Akte.« (203) Betont wird in der Debatte die Bedeutung des freien Willens, die Person ist »ein mit einem Willen ausgestattetes Lebewesen, das sich frei sich selbst zuwendet« (228) und sich seiner selbst erinnert, da »sie über die Zeit hinweg dieselbe Person bleibt« (290). Die psychologische Dimension der Person ermöglicht es den Denkern, den Menschen deutlich vom Tier zu unterscheiden (305).
Auch zur handlungstheoretischen Dimension wird der freie Wille stark betont. Nach Olivi sind die Personen deshalb freie Handlungssubjekte, weil sie über einen freien Willen verfügen. Für alle Autoren gilt, dass »Intellekt und Wille als die beiden rationalen Vermögen für eine freie Entscheidung erforderlich sind«, sie können nicht voneinander getrennt werden, es handelt immer die ganze Person (305.308.372). Es fällt auf, wie eng Thomas seine Handlungstheorie an seine metaphysische anbindet (402). Olivi wiederum weist jeden Determinismus zurück, immer sei die freie Zustimmung des Willens für das Handeln erforderlich (415).
Ausführliche Literaturangaben sind beigegeben, ebenso Personenregister, jeweils getrennt vor und nach 1900. Bei dem Register der Personen vor 1900 fällt auf, dass zahlreich genannte Autoren nicht aufgeführt sind, so Albertus Magnus (4.237); Philipp der Kanzler (4.19); Hugo von Saint-Cher und Wilhelm von Auxerre (18); Robert Kilwardby (29.121); John Peckham (29); Cajetan (95); Proklos (166); Walther von Brügge (352.356.416). Dazu kommt, dass bei den Autoren aus dem Mittelalter meist nur die Seiten angegeben sind, wenn der volle Name im Text steht (z. B. Thomas von Aquin), aber nicht, wenn dann auf weiteren Seiten nur von Thomas die Rede ist. Denn gerade er – aber nicht nur er – kommt viel öfter zu Wort.
Wie bereits eingangs erwähnt, ist zu bedauern, dass nicht noch andere Denker im Blick sind, etwa Bonaventura (was Person ist, ist nur am konkreten Individuum her zu verstehen) oder Albertus Magnus, der die Würde der Person betont, ebenso Dietrich von Freiberg mit seiner Betonung des intellectus agens. Auch sei an Meister Eckhart erinnert; er ist überzeugt, dass der Mensch, um mit Gott eins zu werden, sich der Person entäußern muss. Sicher kann ein Autor sich in seiner Darstellung des Themas beschränken, aber eine Begründung dafür wäre wünschenswert gewesen.
Für den Theologen ist P.s Untersuchung trotzdem von erheb-licher Bedeutung, vor allem im Hinblick auf die theologische An­thropologie. Zwar argumentiert er nicht biblisch, so stehen doch die biblischen Aussagen im Hintergrund. Die theologischen Argumente sind eben auch für die philosophische Behandlung des Themas wichtig. Wie bei anderen Themen, so fällt auch hier auf, dass mittelalterliche Debatten für die Gegenwart von großem Interesse sein können. Eine solche vorgestellt zu haben, bleibt das Verdienst P.s.