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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

954–956

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Dóci, Viliam Štefan, u. Thomas Prügl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bibelstudium und Predigt im Dominikanerorden. Geschichte, Ideal, Praxis. Hrsg. unter Mitarbeit v. Ch. Traxler u. F. Simonelli.

Verlag:

Rom: Angelicum University Press 2019. 396 S. = Dissertationes Historicae, 36. Kart. EUR 50,00. ISBN 978-88-99616-19-9.

Rezensent:

Volker Leppin

Dieser Band stellt ein Wagnis dar: Zwei Themen, Bibelstudium und Predigt, sollen über acht Jahrhunderte Geschichte des Dominikanerordens hinweg so betrachtet werden, dass beides nicht nebeneinandersteht, sondern ineinander verzahnt erscheint. Es wird also nicht einfach Ordensgeschichte getrieben, sondern der Orden genau dort aufgesucht, wo sich seine besondere Aufgabe, die Predigt, mit Institutionen verbindet, die nicht zwingend auf den Orden ausgerichtet sind: Das Bibelstudium der Dominikaner fand ja nicht nur an den Ordenshäusern statt, sondern auch an den Universitäten. Die mit einem solchen Blick verbundene Weitung der Perspektive geschieht zudem epochenübergreifend.
Tatsächlich ist es den Herausgebern gelungen, ihre international zusammengesetzte Gruppe von Autorinnen und Autoren im Großen und Ganzen auf diese ehrgeizige Ausrichtung zu verpflichten, so dass ein trotz seiner Breite geschlossener Band vorliegt, in dem sich, aufgrund der chronologischen Ordnung im gesamten Band verteilt, vier Interessensschwerpunkte abzeichnen: Einige der Beitragenden fragen, vielleicht am ehesten nahe an traditionell ordenshistorischen Fragestellungen, nach dominikanischen Spezifika in Exegese und Predigt, andere schauen auf die Anwendungskontexte der biblisch begründeten Theologie durch den Orden, sodann sucht eine Gruppe von Beiträgen nach den Rückwirkungen der praktischen Aufgaben des Ordens auf die akademische Ausbildung, und schließlich widmet sich eine Gruppe der Behandlung predigttheoretische Fragen im Dominikanerorden.
Die klassische Frage nach dominikanischen Spezifika in Exegese und Predigt prägt auffällig wenige Beiträge, und diese finden sich erstaunlicherweise gerade in der Neuzeit: Viliam Štefan Dóci arbeitet den dominikanischen Charakter von 31 Predigten im ungarisch-österreichischen Raum im 18. Jh. heraus (273–305), und Tomáš Petraček deutet die Aufnahme historisch-kritischer Exegese durch Vincent Adolf Zapletal im ersten Drittel des 20. Jh.s als Ausdruck dominikanischer Tradition, sich stets neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu öffnen (325–342).
Im Blick auf die Anwendungskontexte gewinnt die chronologische Ordnung ihren eigenen Reiz: Dass in der Anfangsphase die Auseinandersetzung mit der Häresie eine besondere Bedeutung hat, macht der Beitrag von Riccardo Pameggiani, besonders anhand von Roland von Cremona, deutlich (21–38). Was es bedeutete, dass der Orden stark in die Universitäten integriert wurde, wird anhand des Beitrages von Marc Millais zu den in der Forschung bislang viel zu wenig beachteten Universitätspredigten von Thomas von Aquin deutlich (39–56); die Vergleiche zwischen den Predigten und den exegetischen Werken des Aquinaten in diesem Beitrag gehören zu den besonderen Pretiosen des Bandes. Ralf Lützelschwab identifiziert ein Corpus von sechs dominikanischen Predigten im Kontext des avignonesischen Papsttums (95–125), die durchaus bemerkenswerte Kritik am Papsttum der Zeit enthalten. Einer der Prediger, Johannes von Dambach, war auch mit Meister Eckhart befreundet (118, Anm. 78), dessen deutschsprachige Predigten Martina Roesner als Ausdruck philosophischer Schriftauslegung deutet (127–143).
Gerade demgegenüber ist die konsequent bibeltheologische Be­gründung einer »Reformacio« des Ordens, die Stefanie Monika Neidhardt für Johannes Meyer im 15. Jh. nachweist, bemerkenswert: Meyer hat sich zwar nicht programmatisch hierzu geäußert, aber »anhand ausgewählter Bibelstellen seine gesamte neue observante Theologie entfaltet« (156). Auf andere Weise diente reformerischen Maßnahmen der Psalmenkommentar des Johannes von Torquemada, den Thomas Prügl vorstellt (193–219) – Torquemada, sonst eher für seinen schroffen Papalismus bekannt, bemüht sich in diesem späten Werk, Hilfestellungen für die Predigten des we-niger gebildeten Klerus zu bieten, und sein Kommentar hatte entsprechend großen Erfolg im aufkommenden Druckzeitalter. Einem ähnlichen Zweck ist die Sammlung von 1800 Predigten ge­widmet, die der Dominikaner Martin Purkwaser zusammengestellt hat, und die Meinrad Till Hötzel auf interessante Weise einordnet (221–254): »Gerade an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, insgesamt eine Zeit des Wandels von der ›Messfrömmigkeit‹ zur ›Wortfrömmigkeit‹, sehen sich die Dominikaner in ihrem ureigensten Tätigkeitsfeld, der Predigt, mit hohen Erwartungen der Gläubigen und starker Konkurrenz bisher unbekannten Herausforderungen ausgesetzt.« (254) Die darin angedeutete Konstellation des Gegenübers zur Reformation steht auch im Hintergrund der gelehrten Abhandlung von Elias Füllenbach über die humanistisch gefärbten Bibelstudien italienischer Dominikaner im 15. und 16. Jh. (255–271). Für das 20. Jh. analysiert Anton Milh ein interessantes Corpus serieller Quellen: dominikanische Predigten der Reihe »Gestelijke Voordrachten« in der früheren Jesuitenkirche in Antwerpen, in denen sich spiegelt, wie die Dominikaner ihr thomis-tisches Erbe in Auseinandersetzungen mit der Moderne zu reformulieren suchten (343–370). Dass für die Schattenseiten dieser Mo-derne um 1900 Dominikaner auch und gerade die Reformation verantwortlich machen konnten, zeigt Anthony Giambrone in seiner Studie über Marie-Joseph Lagrange, die durch den Vergleich mit dem unter Lutherforschern weitaus bekannteren (und gelegentlich geradezu verhassten) Heinrich Suso Denifle Profil ge­winnt: Der Franzose Lagrange wird hier vor dem Hintergrund der nationalen Vorurteile im ausgehenden 19. Jh. wie der Debatten um den Modernismus als ein Exeget gedeutet, der gerade in scharfer Abgrenzung von der Reformation eigene philologische Bemühungen um den Bibeltext voranbrachte (307–323).
Die Rückwirkungen der praktischen Aufgaben des Ordens auf die Exegese zeigt besonders erhellend der Beitrag von Marco Rainini über die Apokalypsenkommentare im ersten Jahrhundert der Dominikaner (57–78). Besondere Beachtung verdient dabei die Hervorhebung der Predigerfiguren in Apk 11; allerdings zeigt sich an diesem Beitrag auch besonders deutlich die Begrenztheit einer ordensgeschichtlichen Zuspitzung, handelt es sich doch um eine Zeit, in der der Franziskanerorden besondere apokalyptische Aktivitäten an den Tag legte – hier wäre ein komparatistischer Blick hilfreich gewesen.
Cornelia Linde gelingt es überzeugend, einen Sermo ad litteratos aus einer Oxforder Handschrift Roger Bacon zuzuweisen (79–93). Diese Identifikation ist fast bedeutsamer als der von Linde als repräsentativ eingestufte Inhalt des Textes, der im Wesentlichen eine Einschärfung des Bibelstudiums als »Mittel zum Zweck der Predigt« (93) darstellt. Auch in diesem Bereich predigttheoretischer Schriften eröffnet der chronologische Längsschnitt interessante Perspektiven: Martin Wehrli-Jones stellt den tractatulus de modo praedicandi des Johannes von Mainz vor, der sich angesichts der Debatten im Jahrhundert des Konziliarismus vor allem von großer Vorsicht gegenüber anstößigem Vokabular und heiklen Themen auszeichnet (169–191).
Blickt man auf das Ganze des Bandes, so kann man wohl sagen: Das Wagnis ist gelungen: Die Aufsätze zeigen, wie unter heutigen Bedingungen ordensgeschichtliche Fragestellungen mit neueren Interessen an Wirkzusammenhängen zwischen Bildung und sozialer Praxis verbunden werden können. So ist er auch für diejenigen Leserinnen und Leser interessant, die nicht speziell an Fragen do­minikanischer Geschichte ausgerichtet sind.