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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

952–954

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Dinzelbacher, Peter

Titel/Untertitel:

Vision und Magie. Religiöses Erleben im Mittelalter.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019. VI, 221 S. m. 23 Abb. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-506-78732-3.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Mit seinem Selbstverständnis als Religionshistoriker erforscht der Mediävist Peter Dinzelbacher seit Jahrzehnten die Überlieferungen von Visionen besonders aus mittelalterlicher Zeit. Auch im anzuzeigenden Buch geht es ihm um sein wissenschaftliches Lebensthema.
Seine Publikation ist in acht Hauptkapitel untergliedert, denen er eine »Einleitung« (1–5) voranstellt, die seine Unterscheidung zwischen »Visionen« und »Erscheinungen« erklärt. Für »Visionen« sei es charakteristisch, dass der Seher in einen anderen Raum geführt werde, wohingegen jemand eine »Erscheinung« erlebe, wenn er in wachem Zustand ein für andere Menschen nicht sichtbares Wesen oder Objekt wahrnehme. – In Hauptkapitel 1 »Vision und Magie« (7–42) geht es um Dämonen- und Engelsbeschwörungen. Wie lassen sich Dämonen, Engel oder sogar Gott bzw. Christus mittels Zauber bezwingen, unter den Menschen im Rahmen einer »Erscheinung« hilfreich oder zerstörend zu wirken? Inwieweit lassen sich die »Visionen« der Hexen (Sabbatvisionen, Höllenvisionen etc.) inhaltlich als magiegeladen verstehen?
Hauptkapitel 2 »Zur Psychologie der Visionäre« (43–85) fragt, welche Perspektiven die heutigen Neurowissenschaften für die Einschätzung von »Visionen« und »Erscheinungen« anbieten. Zugrunde legt D. die Überzeugung, »dass die Psyche der Menschen vergangener Epochen in den hauptsächlichen Zügen der der rezenten Menschen gleich« ist (54). Indem er die »Anwendbarkeit heutiger Psychologie auf Menschen früherer Epochen [für] gesichert« hält, findet er in seinen mittelalterlichen Zeugnissen »Halluzinationen« oder sieht bei »›echten Mystikern‹ im katholischen Sinn und ›Drogenmystikern‹ dieselben somatischen Zustände«, so dass er »die transzendenten Erklärungsmodelle [für] obsolet« erklärt (60). Konkret sieht er die Ausdrucksweisen der mittelalterlichen Minnemystik bei Frauen angesiedelt, »die als Nonnen, Tertiarinnen oder Beginen nie oder nicht mehr körperlichen Sex erleben durften« (76). In diesem Sinn erklärt er »Jungs Archetypen«, die die Menschen aller Zeiten »wie Instinkte im Erbgut angelegt« haben, als das Reservoir, aus dem bereits die mittelalterlichen Visionen und Erscheinungen hervorgingen; hingegen lägen sie »nicht in irgendeiner Transzendenz« begründet (79).
Hauptkapitel 3 »Besessenheit, Enthusiasmos und Vision« (87–98) befasst sich mit Zeugnissen von Visionen und Erscheinungen bei Besessenen: vom Einwirken oder sogar Einfahren überirdischer Wesen in den Menschen bis dahin, dass Besessene durch die Luft in andere Räume geschleudert werden.
Hauptkapitel 4 »Neue Quellen zur Jenseitsbrücke und Himmelsleiter« (99–128) kommt als eine themenbezogene Materialzusammenstellung daher. – Hauptkapitel 5 »Erscheinungen, Legende und Verehrung des Erzengels Michael« (129–148) darf als das originellste Buchkapitel gelten und bietet inhaltlich jene Vielfalt, die die Überschrift verspricht.
Hauptkapitel 6 »Visionen und Visionäre im Urteil der Zeitgenossen« (149–173) strukturiert die überlieferten Reaktionen der Mitmenschen auf diese Phänomene dreifach (»Zustimmung«, »Unentschieden« und »Ablehnung«). – Im mittelalterbezogenen Hauptkapitel 8 »Verlorene und unedierte Visionstexte« (175–182) sowie im Hauptkapitel 9 »Ausblick auf Vision und Visionsliteratur in der Neuzeit« (183–195) benennt D. bestehende Forschungsdesiderate. Eine Bibliographie (199–215), ein Abbildungsverzeichnis (217–218) sowie ein Personen- und Titelregister (219–221) runden das Buch ab.
Im Ergebnis seien aus den acht Hauptkapiteln besonders D.s Überlegungen zum Erzengel Michael sowie zu »Besessenheit, Enthusiasmos und Vision« hervorgehoben. Diese Studien ragen dadurch heraus, dass sie einen Neuheitswert für sich beanspruchen dürfen und D. in einem wirklichen Dialog mit der mediävis-tischen Forschung zeigen. Auch die Anregung D.s zur Bearbeitung der neuzeitlichen Visionsliteratur verdient als Abschlusskapitel des Buches große wissenschaftliche Aufmerksamkeit.
Im Unterschied dazu wirken andere Kapitel selbstverliebt und redundant. Keinen Autor zitiert D. so oft wie – mit großem Ab­stand! – sich selbst. Die Ausführungen zu manchen Themen, zu denen D. bereits häufig publiziert hat, wirken wie ein (verdienstvoller) Zettelkasten, aus dem er nun auch seine letzten Quellenfunde in dieses Buch hineingeschüttet hat (z. B. »Neue Quellen zur Jenseitsbrücke und Himmelsleiter«).
Das Grundmuster von D.s Argumentationsweise liegt – psychologisch gesprochen – in seiner Gegenabhängigkeit begründet. Auf der einen Seite kritisiert er ihm missliebige Forschungen, dass sie eine Allgemeingültigkeit für sich reklamieren, die er ihnen abspricht. Auf der anderen Seite behauptet er alle Normativität für sich selbst: erstens (wie gezeigt) im Sinne der von ihm als »gesichert« angesehenen Anwendbarkeit aktueller Psychologie auf Vorfahren früherer Epochen, zweitens im Sinne einer Daueraversion gegenüber »konfessionell gebundene[n] Betrachtern« (53), wobei unklar ist, inwieweit er hier auch die Theologie als wissenschaftlich defizient einstuft. Jedenfalls sieht er sein Ziel, Visionsinhalte aus dem Bereich des Numinosen »in jenen nachvollziehbaren [Bereich] psychologischen Wissens zu verschieben«, erstrangig mithilfe einer »Zusammenarbeit von Philologen, Historikern, Psychologen und Medizinern« gewährleistet (85). Als Ausdruck der beschriebenen Zielsetzung erklärt sich auch der Buchtitel »Vision und Magie«, der passender »Vision und Erscheinung« hätte lauten müssen.