Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

951–952

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Vinzent, Markus

Titel/Untertitel:

Offener Anfang. Die Entstehung des Christentums im 2. Jahrhundert.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 368 S. Geb. EUR 40,00. ISBN 978-3-451-38577-3.

Rezensent:

Christoph Auffarth

»Wenn man die ältesten Zeugen, die uns die Vorstellung von den Anfängen des Christentums vermitteln können, weder Jesus noch Paulus sind, und nicht über die Zeit vor Ende des zweiten jüdischen Krieges, also vor 135 n. Chr. zurückführen, wie war es dann wirklich?« (284) Markus Vinzent kann diese ironisch gemeinte Frage nicht beantworten. Die Frage nach dem Anfang lässt sich auch nicht lösen, weil die Zeit davor seiner Ansicht nach eine Black Box ist, ein offener Anfang, bzw. viele mögliche Anfänge. Die Rekonstruktion ›des‹ Anfangs (beginnend mit der Krise des Todes Jesu, des Tages von Antiochien, der Zerstörung des Jerusalemer Tempels bis zum Zweiten Jüdischen Krieg) erfolgte erst gegen Mitte des 2. Jahrhunderts – nicht nur, aber in starkem Maße gegen die Provokation des Markion mit dem antijüdischen Titel seiner Sammlung καινὴ διαθήκη und seiner Abspaltung von der jüdischen Tradition. Die Texte und Deutungen seien nicht einfach rezipiert, vielmehr durch die veränderten zeitlichen Kontexte nach dem Bar-Kochba-Krieg in eine andere Perspektive gesetzt worden und unter dieser »Retrospektion« neu zusammengestellt, neu gerahmt, redigiert und pseudepigraph neu geschrieben worden.
Knapp und deutlich ist die Kritik am Bild der Handbücher zusammengefasst im Appendix 1 »Chronologische und anachro-nologische Geschichtsschreibung« (293–301), die man am besten zuerst liest. Denn der Weg zum Kern ist weit und erschließt sich erst eher am Schluss. Denn sein Argument, dass die Anfänge des Christentums mit ganz anderen Quellen von den Geschichtsschreibern konstruiert wurden als mit den kanonischen Schriften, legt V. in Schichten von oben nach unten »ana-chronologisch« frei. Er beginnt mit Gregor von Tours Erzählung vom Anfang des Chris-tentums im 6. Jh. und arbeitet sich rückwärts zu Orosius und dem lange hoch geschätzten Briefwechsel Pauli mit Seneca. Dann ausführlich zu Eusebius’ Kirchengeschichte (59–111), es folgen Iulius Africanus, Origenes, Tertullian (112–142) und Irenäus (143–172). Bei allen Geschichtsschreibern sind die kanonischen Schriften des Neuen Testaments nur unter anderen, manche gar nicht als Quellen verwendet, viel bedeutender sind für sie die apokryphen Texte, etwa die Acta Pauli statt der Apostelgeschichte, die Acta Pilati statt der Evangelien usf. Wie aber sind die Apostelgeschichte und das Corpus der Paulusbriefe zu bewerten, die doch nicht erst im 2. Jh. geschrieben sind? Zwei größere Untersuchungen gelten – neben Bemerkungen zu den Evangelien und der Apokalypse – der Autorität der Apostel im Verhältnis zu »dem« Apostel (Paulus). Wenn man die Briefesammlung mit dem Galaterbrief beginnt, wie das Mar-kion getan hat, dann ist Paulus von Christus zum Apostel eingesetzt, nicht von den jüdischen Jüngern/Aposteln von Jerusalem oder der Gemeinde in Damaskus. Diesen verschiedenen Deutungen des Apostelamtes des Paulus gilt das Kapitel zu dem Teil des Neuen Testaments, das die ersten Gemeindebildungen beschreibt und deutet, dem sogenannten Praxapostolos (Apg, Jak, 1–2Petr, 1–3Joh und Jud als Abteilung in den frühen Codices), der Epistula Apostolorum und den Apostelakten (173–219). In vielen Retrospektiven wird die kanonische Apostelgeschichte nicht verwendet.
Der zweite Komplex ist die Frage des Corpus der Paulusbriefe (220–283). Dafür bedient sich V. der Analogie, wie die Sammlung der Ignatius-Briefe entstanden und gewachsen ist (dazu ausführlicher V.: Writing the History of Early Christianity. From Reception to Retrospection, Cambridge 2019). Mit D. Trobisch sind antike Briefsammlungen literarisch komponierte Briefe, die zunächst der Verfasser selbst ausgewählt hat, nach seinem Tod wird die Sammlung von Schülern erweitert und zum Teil mit Pseudepigraphen er­gänzt, bevor dann eine Gesamtausgabe alle echten und unechten Texte unter dem Namen der Autorität vereint. Wie es bei den Ignatianen eine Drei-, Sieben- und Dreizehn-Briefesammlung gibt, so gibt es neben der kanonischen Vierzehn-Briefesammlung des Paulus im Neuen Testament eine Zehner-Sammlung, die für Markion von Tertullian bezeugt ist, und die Briefe minus derer, die sicher nicht von Paulus verfasst sind, der Deuteropaulinen. – Bemerkenswert ist der Appendix über Homosexualität bei Paulus (317–328).
Die Forschung, angelsächsisch ebenso wie deutschsprachig, ist gründlich aufgearbeitet, Belegstellen überall nachgewiesen und öfter auch in neuen Übersetzungen zitiert. Indizes zu Textstellen, modernen Autoren und ein Personen- und Sachregister erlauben schnelles Nachschlagen. Wie die Arbeiten von M. Klinghardt, D. Tro­bisch, B. L. Mack u. a. stellen die Untersuchungen von V. wichtige Fragen an die communis opinio des Paradigmas von »dem« Anfang des Christentums und der Kanonbildung. Da ist zwar noch kein neues Paradigma in Sicht, aber es wird deutlich, wie viel im historisch-kritischen Modell der »ersten hundert Jahre« auf Kombination und Möglichem beruht. Und wie wichtig die Berücksichtigung der nichtkanonischen Schriften für das Bild ist, für die Bilder, die christliche Schriftsteller unterschiedlicher Gattungen und verschiedener Strömungen sich von den Anfängen des Christentums gemacht haben.