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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

943–944

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

White, Devin L.

Titel/Untertitel:

Teacher of the Nations. Ancient Educational Traditions and Paul’s Argument in 1 Corinthians 1–4.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. XIII, 225 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 227. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-053785-7.

Rezensent:

Stefan Krauter

Der 1. Korintherbrief beschäftigt spätestens seit Ferdinand Chris-tian Baur die neutestamentliche Forschung: Was war die Situation in der Gemeinde in Korinth, die Paulus zur Abfassung dieses Schreibens bewog? Was kann man über ihr soziokulturelles Setting erschließen? Wer sind die »Gegner«, gegen die Paulus argumentiert? Hat die auf den ersten Blick etwas unstrukturiert wirkende Aneinanderreihung von Abschnitten zu verschiedenen Themen in diesem Brief doch einen »roten Faden«? Diese und noch viele wei-tere Fragen wurden immer wieder traktiert, und zwar mit sehr di-vergenten Antwortversuchen, darunter auch hochspekulativen Thesen.
Die Arbeit von Devin L. White, die überarbeitete Fassung einer Dissertation an der Emory University, geht mit dieser Forschungslage in angenehmer Weise um. Sie sucht sich eine klare Fragestellung und bearbeitet sie weder mit dem Anspruch, eine völlig originelle Entdeckung gemacht zu haben, noch mit der Idee, den Generalschlüssel für den Brief gefunden zu haben, vielmehr unter kritisch-konstruktiver Aufnahme vorangehender Forschungsbeiträge und mit dem sinnvollen Ziel, einen Beitrag zu einer plausiblen Lesart des Briefes zu machen.
In einem einleitenden Kapitel zeigt W., dass schon in der Antike Paulus als »Lehrer« rezipiert wurde, d. h. Motive und Begriffe aus dem antiken Schulwesen in seinen Briefen wahrgenommen wurden. Ein knapper Überblick über die Forschungsgeschichte stellt die wichtigsten modernen Ausformungen dieser Beobachtung dar. W.s Ansatz führt in folgenden Punkten über diese hinaus: Während oft versucht wurde, Bezüge von Paulus und/oder seinen »Gegnern« in Korinth zu bestimmten Formen philosophischer Bildung her zustellen, konzentriert sich W. auf die grundlegende erste und zweite Stufe des antiken Schulwesens (ludi magister/διδάσκαλος und grammaticus/γραμματιστής) und er widersteht der Versuchung, durch mirror reading schnelle Schlüsse auf die Adressaten (bzw. die »Gegner«) zu ziehen, bleibt vielmehr im Brieftext und analysiert dessen Argumentation mithilfe von Begriffen, Topoi und Motiven aus dem Themenfeld Schule.
In einem zweiten Kapitel stellt W. knapp, aber sehr klar das antike Bildungswesen dar. Hervorzuheben ist, dass er die falsche Alternative griechisch-römisch oder jüdisch vermeidet. Er stellt vielmehr das antik-jüdische Bildungswesen als Teil des gemeinantiken dar, ohne die kulturellen Besonderheiten zu nivellieren. Sehr angenehm ist, dass einige zentrale Texte von Quintilian, Ps.-Plutarch und Philo ausführlich vorgestellt werden.
In den nun folgenden Kapiteln 3 und 4 identifiziert W. »educational motifs« in 1Kor 1–4. Dabei geht er nachvollziehbar so vor, dass er zunächst 1Kor 3,1–4,21 betrachtet, wo schon häufig solche Motive erkannt und auch eingehend untersucht worden sind: die Nahrungsmetaphorik (3,1–4), die Saatmetaphorik (3,5–9), die Hausbaumetaphorik (3,9–17), die Bezeichnung »Hausverwalter der Geheimnisse Gottes« (4,1 f.), die Maxime »nicht über das hinaus, was geschrieben ist« (4,6), die Erwähnung von »Paidagogoi« und Eltern (4,14 f.), die Aufforderung zur Nachahmung (4,16), die explizite Erwähnung der Lehre in allen Gemeinden und die Erinnerung an sie (4,17) und schließlich die Drohung mit dem Stock (4,21). W. bestätigt in diesem Kapitel die Ergebnisse der vorangehenden Forschung, er weist überzeugend nach, dass es sich vor allem um An­spielung auf die grundlegenden Stufen des antiken Bildungswesens und nicht auf philosophische oder rhetorische Bildung handelt, und er verteidigt diese Auslegung gegen Einwände.
Von diesem gesicherten Ergebnis aus geht W. nun zurück zu 1Kor 1,10–2,16. Auch dort lassen sich, wenn auch weniger explizit, Anklänge an das antike Schulwesen erkennen. Die »Parteien« in Korinth können als konkurrierende Schulen gelesen werden. Die Differenzierung zwischen dem »Wort vom Kreuz« und der »Weisheit« entspricht der antiken Grundeinsicht, dass der gestufte Lernstoff dem Lernfortschritt der Schüler angepasst sein muss. Weiser, Schriftgelehrter und Sophist (1,20) erscheinen als Gegenbild zum perfekten Lehrer Paulus. Auch in diesem Kapitel gelingt es W., seine Deutungen plausibel zu machen. Das wenig sinnvolle Ziel, sie als einzig mögliches und von Paulus so intendiertes Verständnis zu erweisen, hat er – wie erwähnt – nicht.
Das längste, fünfte Kapitel bietet eine fortlaufende Auslegung von 1Kor 1,10–4,21. Die Grundidee von W.s Exegese ist, dass Paulus mithilfe der »educational motifs« zwei Argumentationsziele zu erreichen versucht: Er untermauert seine Autorität, indem er sich als guten Lehrer darstellt, und tadelt die Christusgläubigen in Korinth als schlechte Schüler. Wenn sie sich konkurrierenden Weisheitsschulen unter verschiedenen Schulhäuptern zuordnen, dann haben sie offensichtlich den elementarsten Lernstoff nicht verstanden oder vergessen. Dieser, das »Wort vom Kreuz«, ist zwar ein »Bildungsinhalt«, aber trotzdem im teilweisen Widerspruch zu antiken Bildungsauffassungen. Denn er schließt Konkurrenz zwischen Lehrern, Bildung von Schulen und soziale Distinktion durch Abgrenzung von weniger Gebildeten aus. Paulus nimmt also Motive und auch Grundüberzeugungen des antiken Bildungswesens auf, geht aber durchaus kreativ mit ihnen um. Auch in diesem Abschnitt ist W. darum bemüht, seine Positionen gegenüber anderen plausibel zu machen, ohne je apodiktisch zu werden.
Ein sehr kurzer Schlussteil rundet das Buch ab. W. fasst die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammen, stellt sie in Bezug zur vorangehenden Forschung und zeigt, wo man weiterarbeiten könnte. Dies ist insbesondere die Frage, ob Paulus im restlichen 1.  Korintherbrief die in 1–4 angelegte Argumentationsstrategie wei­terverfolgt, d. h. »Erziehung/Bildung« ein roter Faden durch den ganzen Brief ist, und die Frage, welche Rolle »Erziehung/Bildung« im Corpus Paulinum (den echten wie den unechten Paulusbriefen, vor allem auch den Pastoralbriefen) spielt.
Erfreulich ist, dass W.s Buch gegen den Trend, exegetische Dissertationen immer dicker zu machen und immer mehr mit kompliziertester, beinahe hermetischer Theoriesprache aufzuladen, ein schmaler, ungemein klarer und lesbarer Band ist. Schade (und bei einem so renommierten und teuren Verlag irritierend) sind nur die etwas zu häufigen Schreibfehler in deutschen Buchtiteln und Zitaten.